Dieser Text wurde im Dez.2000 geschrieben.
 

Das bürgerliche Familienideal

- Eine Interpretation anhand zeitgenössischer Gemälde -
Um den Text (-ausschnitt) von Jürgen Peuckert über
Die Entstehung der modernen Kleinfamilie als
familialer Normaltypus der Moderne
anhand von Gemälden aus verschiedenen Zeiten und zugehörigen Texten erläutern zu können, stelle ich zunächst zwei Bilder vor - aus urheberrechtlichen Gründen zwar nur in Umrißzeichnungen, gleichwohl hinreichend deutlich genug:

Familie Rechtsanwalt Dr.Fritz Glaser, 1925
Tempera auf Sperrholz; 100x79cm
Gemäldegalerie Neue Meister, Dresden

Die Familie des Künstlers, 1927
Tempera u.Öllasur a.Holz; 80x50cm
Städelsches Kunstinstitut, Ffm.

Es handelt sich um zwei Bilder des Malers Otto Dix, die ich hier im richtigen Größenverhältnis wiedergegeben habe: Zwei Familiengruppenbildnisse - das bei Besuchen in Dresden 1925 gemalte Familienbildnis seines frühen Dresdner Förderers und Freundes, des jüdischen Rechtsanwalts Dr. Fritz Glaser und das wohl noch in Berlin geschaffene eigene Familienbildnis 1927, beide Male als Vierergruppe von Eltern und zwei Kindern.
 
Beide Male wird die bewährte Geometrie gleichschenkliger Dreieckskompositionen und des Goldenen Schnitts bemüht, um den auseinanderstrebenden Haltungen verbindliche Festigkeit zu verleihen.
Eines der bekanntesten Bilder in dieser Kompositionstradition ist sicher das nebenstehende Gemälde "Die Familie des Herzogs von Osuna", das Goya 1788 gemalt hat. Ich werde mich im Folgenden öfter auf dieses Bild beziehen, doch jetzt zurück zu Dix und zur Familie Glaser:
 
"Beim Glaserbildnis ... geht er dem psychologischen Verhältnis der Dargestellten untereinander nach, der behaupteten patriarchalischen Vormacht des Mannes mit der inbesitznehmenden Gebärde des um die Schulter der Frau Erna gelegten Arms, die in Tuchfühlung zu allen den eigentlichen Mittelpunkt abgibt und die auseinanderstrebenden Blicke und Haltungen dennoch sammelt."
(Diether Schmidt im Katalog zur Ausstellung in Stuttgart und Berlin anläßlich des hundertsten Geburtstages von Dix 1991, S.194)
 
Die "patriarchalische Vormacht des Mannes mit der inbesitznehmenden Gebärde des um die Schulter der Frau (Erna) gelegten Arms" war auch bei Goya vorhanden, aber betrachten Sie dazu einmal das folgende Bild von Johann Peter Hasenclever aus dem Jahr 1847 ...
Hasenclever (1810-1853)
Selbstbildnis mit Familie, um 1847
   ... und lesen Sie die zugehörige Interpretation:
"Die in die Bildtiefe gestaffelte Familie wendet sich, scheinbar von links kommend, dem Betrachter zu. Die optische und inhaltliche Bildachse bildet der Maler, während die geometrische an der Verbindungslinie der Eheleute verläuft. Trotz seiner tiefen Stellung im Bildraum ist das Gesicht des Künstlers der Höhepunkt der gestaffelten Figurengruppe. Das Gesicht Carolines liegt fast - aber eben nur fast - mit seinem auf einer Höhe. Basierend auf der holländischen Tradition des 17.Jahrhunderts, ... , repräsentiert dieses Bild Hasenclevers Selbstverständnis von der Familie, ohne jedoch zum Repräsentationsgemälde zu geraten. Nicht das gern wiedergegebene bürgerliche Interieur wird zur Folie dieser Selbstdarstellung, sondern die waldige Natur des Bergischen Landes. Die nicht domestizierte Natur ist Hasenclever der aktezptable Hintergrund, um seiner Vorstellung menschlicher Würde Ausdruck zu verleihen. Freilich, auch für den Remscheider Maler gibt es eine Rangfolge. - Der Mann ist das Oberhaupt der Familie. - Und doch ist dieses Bild dem Gedanken der Gleichberechtigung von Frau und Mann schon wesentlich näher als die traditionellen Darstellungen, die einzig dem Manne das Standmotiv zubilligen. Die Frau sitzt in der Regel züchtig am Tisch, allzuoft mit der obligaten Stickarbeit beschäftigt." (Soiné, Knut: Joh.Peter Hasenclever. Neustadt/Aisch 1990,S.157)
 
  Joh. Friedr. Aug. Tischbein (1750-1812)
Die Familie des Künstlers, 1796
 
Ich finde in meinen Museumsbeständen (noch) kein Bild mit der stickenden Hausfrau, aber nebenstehend sehen Sie den typischen (von Goya bekannten) Bildaufbau mit dem stehenden Vater und der sitzenden Mutter (das atypisch angeschnittene Bild ist wohl keine malerische Absicht gewesen, das Bild ist links und oben irgendwann im Lauf der Zeit beschnitten worden).
 
Nachtrag Frühjahr 2009:
Das Bild mit der st(r)ickenden Hausfrau ist da:
... vergleichen Sie einmal:
Das Bild von Tischbein mit dem Text von Peuckert.
"Die bürgerliche Familie unterscheidet sich in zentralen Punkten von dem multifunktionalen Lebenszusammenhang des "ganzen Hauses":
  1. Wohnung und Arbeitsstätte sind getrennt; die Produktion findet - eine maßgebliche Voraussetzung für die Privatisierung des familialen Zusammenlebens - außerhalb der Familie statt.
  2. Gesinde und Dienstboten sind räumlich ausgegliedert und erhalten zunehmend Angestelltenstatus.
  3. Die bürgerliche Familie bildet einen privatisierten, auf emotional-intime Funktionen spezialisierten Teilbereich. Das Leitbild der Ehe als Intimgemeinschaft hebt, im Unterschied zur relativen Austauschbarkeit der Partner im "ganzen Haus", die Einmaligkeit und Einzigartigkeit des Partners hervor. "Liebe" wird zum zentralen ehestiftenden Motiv.
  4. Es erfolgt eine Polarisierung der Geschlechtsrollen. Dem Mann wird die Rolle des Ernährers zugeschrieben. Die Frau wird aus der Produktion ausgeschlossen und auf den familialen Binnenraum verwiesen.
  5. Kindheit wird zu einer selbständigen, anerkannten Lebensphase.Die Erziehung des Kindes wird zur "ureigensten" Aufgabe der Frau."
(Peuckert,Rüdiger: Familienformen im sozialen Wandel. Opladen, 2.Auflage 1996, S.22)
Dieser (neue) Bezug der Familie auf "einen privatisierten, auf emotional-intime Funktionen spezialisierten Teilbereich" und das "Leitbild der Ehe als Intimgemeinschaft" deuten sich in diesem Bild von Tischbein bereits an. Neidhardt kann daher sicher zugestimmt werden, wenn er in seiner Interpretation dieses Bildes schreibt:
"Elternliebe und Familiensinn gehörten im Zeitalter der Empfindsamkeit zum Moralkodex des jungen, aufstrebenden Bürgertums."
(Neidhardt, H.J.: Deutsche Malerei des 19.Jhdts. in Museen der DDR. Leipzig 1990, S.73)
Hier noch zwei Zufallsfunde aus dem Biedermeider: Im linken Bild wird nur den männlichen Mitgliedern der Familie das Standmotiv, von dem bei Soiné im Zusammenhang mit Hasenclevers Familienbild die Rede war, zugebilligt, im rechten sehen wir wieder die bekannte Dreieckskomposition mit dem alle anderen Familienmitglieder überragenden (ordensgeschmückten)Vater:

 
Leopold Fertbauer (1800-1876)
Familienbild des Kaiserhauses
um den Herzog von Reichstadt, 1826
  Ferd. G. Waldmüller (1793-1865)
Familie Gierster, 1838
 
"Mit dem Aufstieg des Bürgertums (etwa seit 1830) wurden die sich in der privatisierenden Kleinfamilie herausbildenden Funktionen normativ überhöht und als kulturelle Leitbilder postuliert. Das bürgerliche Ehe- und Familienleitbild verbindet die persönliche Verantwortung der Eltern für ihre leiblichen Kinder, wie sie den Ideen der Aufklärung entspricht, mit der im Zeitalter der Romantik entwickelten Intimauffassung von Ehe und Familie. Im bürgerlichen Familienleitbild werden die familialen Beziehungen zwar romantisiert gesehen, gleichzeitig werden sie aber auch rechtlich-sittlich verpflichtend gemacht."
(Peuckert, Rüdiger: Familienformen im sozialen Wandel. Opladen, 2.Auflage 1996, S.22)
 
... so galt ja auch bei Hasenclever - trotz des "abweichenden" Bildaufbaus: Der Mann ist das Oberhaupt der Familie.

... aber so einfach und eindeutig, wie oft unterstellt, ist das wohl doch nicht gewesen, mit der patriarchalischen Übermacht als Kennzeichen der bürgerlichen Familien im 19.Jahrhundert - das deutete sich bei Hasenclever durchaus an und im folgenden (einige Jahre vor Hasenclevers Familienbild entstandenen Bild) gehen diese "Abweichungen" noch etwas weiter:
 
Hier ist alles anders:
Der Vater überläßt der Mutter nicht nur die stehende Position sondern auch - im Gegensatz zu Hasenclever - die höhere Augenlinie.
Die beiden Jungen (links) spielen mit Tieren, das Mädchen (rechts, mit dem Rücken zum Betrachter) spielt mit den Soldaten, die Puppe hat es an die Seite gelegt.
(Siehe auch diesen Text)
Wilhelm von Harnier (1800-1838)
Der Maler mit seiner Familie vor der Staffelei, 1838

 
Auch die beiden folgenden Bilder passen nicht ins "Schema" (wenn es denn wirklich ein solches als ein allgemein anerkanntes gab und es nicht ein in der Rückschau angebrachtes Etikett ist):
Da steht beide Mal die Frau und der Mann sitzt. Während im Bild von Waldmüller das Schreibzeug des Mannes und die Blumen in der Hand der Frau zumindest die Rollenverteilung verdeutlichen, fehlen diese Hinweise in der Fotografie. Es wird allerdings zu beachten sein, daß vor allem die Herstellungsbedingungen von Foto und Gemälde andere sind: Die (momentane) unterstützende Zuwendung der Mutter hat es vielleicht überhaupt erst möglich gemacht, daß die Fotografie in der vorliegenden (an die Gemälde angelehnte) Dreiecks-Komposition entstehen konnte - der Vater "opfert" seine Position der technischen Notwendigkeit, schließlich waren noch Belichtungszeiten von Sekunden und nicht von Hundertsteln erforderlich.
 

 
F.G.Waldmüller (1793-1865)
Bildnis eines Kartographen mit
seiner Frau (1824)
  Atelieraufname einer Bürgerfamilie
Steinhagen/Gütersloh (um 1900)
 
Peuckert betont diese relative Bedeutsamkeit des zuvor erläuterten Familientypes noch einmal ausdrücklich durch den Hinweis auf dessen "Leitbild"funktion:
"Bürgerliche Familien dieses Typs waren im 19.Jahrhundert zahlenmäßig relativ selten. Sie erlangten ihre historische Bedeutung vornehmlich durch ihre Leitbildfunktion (auch für andere Sozialschichten). Auch für weite Kreise des Bürgertums bestand, schon aufgrund ihrer ökonomischen Lage, eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem verkündeten Ideal und der praktizierten Lebensweise. In den Arbeiterfamilien kann trotz des Wegfalls der Heiratsbeschränkungen von einer der bürgerlichen Familie vergleichbaren Emotionalisierung und Intimisierung des Familienlebens schon aufgrund der randständigen sozio-ökonomischen Lage (niedrige Löhne, Arbeitslosigkeit), der notwendigen Erwerbsarbeit der Ehefrau (und Kinder) und der beschränkten Wohnverhältnisse (z.B. Untervermietung in der Form des "Schlafgängertums") nicht die Rede sein. In normativer Hinsicht lassen sich allerdings Annäherungen beobachten. Das bürgerliche Familienideal mit der Vorstellung der nicht erwerbstätigen Hausfrau und Mutter wird auch unter Arbeiterfrauen immer populärer."
(Peuckert, R.: Familienformen im sozialen Wandel. Opladen, 2.Aufl.1996, S.22f.)
Das wird sehr deutlich, wenn Sigrid Jacobeit zu dieser Federzeichnung von Hans Baluschek schreibt:
"Arbeiterfamilie auf dem Heimweg nannte Baluschek die kleine Gemeinschaft, die da am Stadtrand nach Hause strebt. Das dritte Kind ist unterwegs. Die beiden größeren sind beim Vater auf dem Arm und an der Hand. ... Nichts Zerlumptes ist da. Baluschek nimmt Partei für diese harmonisch wirkende Arbeiterfamilie."
(S.Jacobeit in: Staatl. Kunsthalle Berlin: Hans Baluschek. 1870-1935. Berlin, 2.Aufl.1991, S.120)
Hans Baluschek (1870-1935)
Arbeiterfamilie auf dem Heimweg, o.J.
 
 
... und nun Dix, der dieses bürgerliche Familienideal (zumindest für seine eigene Familie) in Frage stellt.
Ich zitiere eine längere Passage aus dem Katalog zur bereits 1978 (im Städel/Frankfurt) stattgefundenen Ausstellung "Kinder und Erwachsene im Bildnis".
"Dix ... zieht eine Summe aus den überlieferten und zu seiner Zeit weithin anerkannten Meinungen über Familie und Rollenverhalten und stellt sie radikal in Frage. Er malt sich zusammen mit seiner Frau Martha, der Tochter Nelly und seinem Sohn Ursus.
Der Kopf der Frau, die sich über Mann und Baby neigt, ist von madonnenhafter Regelmäßigkeit. Die kleine Tochter wirkt aufgrund der ähnlichen Frisur und der runden, klaren Gesichtszüge wie ein Abbild ihrer Mutter. Vater und Sohn sind im Gegensatz zu den beiden durch übersteigerte Häßlichkeit angeglichen. Schielend und grinsend, mit Bartstoppeln, kurzen struppigen Haaren und einer ungelenken, knochigen Hand verleiht Dix sich selbst Merkmale eines jener kretinhaft wirkenden Wesen, die er, der sich intensiv mit der alten Malerei befaßt hat, bei Bosch oder Brueghel gesehen haben mochte. Er bezieht das Baby nicht nur in diese Darstellungsweise mit ein, sondern lenkt sogar seine noch unwillkürliche Hand- und Armbewegungen in eine Boxstellung gegen den Vater um.
Damals kamen die Fotos von Babys auf Eisbärfellen in Mode, die das Kind vollständig verniedlichten. Mit Wunschbildern dieser Art hat das häßliche und aggressive Kind bei Dix nichts zu tun.
Auch die geläufige Anschauung über geschlechtsspezifische Eigenschaften nimmt er beim Wort, wenn er gerade die weiblichen Mitglieder der Familie verschönert und als liebenswürdig charakterisiert, die männlichen dagegen so sehr deformiert, daß sie fast abstoßend wirken.
... Im Grundmuster der patriarchalischen Familie dominiert der Vater. Er überragt Frau und Kinder und bringt dadurch gleichzeitig seine Schutzfunktion zum Ausdruck.
Dix selbst folgte manchmal diesem Typus. Bei seiner eigenen Familie aber kehrt er die Verhältnisse um: Der breite Körper der Frau überfängt wie eine Madonna Kind und Mann, der sich vom Bildrand her in ihren Schutz zu drängen scheint. ...
Dix malte dieses Bild in einer Zeit, als politisch-wirtschaftliche Krisen in der Folge des ersten Weltkriegs und soziale Bewegungen die traditionellen Grundlagen und Wertmaßstäbe erschütterten. Seine kritische Darstellung deutet an - ohne beispielhaft neue Wege zeigen zu können - daß die bis dahin weithin selbstverständlichen Auffassungen über Kinder, Männer, Frauen und Familien entschieden ins Wanken geraten waren und von vielen bereits nicht mehr geteilt wurden."
(Aus: Kinder und Erwachsene im Bildnis - Ausstellungskatalog - Frankfurt/M. 1978, S.33)
Künstler nehmen gesellschaftliche Entwicklungen sehr oft viel früher wahr, überhöhen sie in ihren Darstellungen und werden dadurch zu Mahnern, Warnern, Propheten der Gesellschaft. Bei Dix werden seine Lebensumstände diese Sensibilität gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen noch unterstützt haben.
 
Gleichwohl wird als generelle Entwicklung des (gesellschaftlich akzeptierten und damit verbreiteten) Familienleitbildes gelten, was Peuckert dazu feststellt:
"Gegen Ende des 19.Jahrhunderts läßt sich eine zunehmende und alle Schichten umgreifende normative Orientierung am bürgerlichen Familienideal feststellen. Praktiziert wird dieses Leitbild aber zunächst nur von einem relativ kleinen Kreis privilegierter bürgerlicher Schichten. Zwar zeigen sich in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts, mitbedingt durch soziale Umschichtungsprozesse, wie der Zunahme des Angestelltenanteils, gewisse Verbürgerlichungstendenzen. Letztlich waren jedoch alle Bemühungen zur Durchsetzung des bürgerlichen Familientyps relativ erfolglos, da es in der krisenhaften Zeit bis 1950 nicht gelang, deutliche Verbesserungen des Lebensstandards für die Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen."
(Peuckert, R.: Familienformen im sozialen Wandel. Opladen, 2.Auflage 1996, S.23)
Die Vorstellung von Familie und den sich in dieser Lebensform darstellenden Rollenmustern ist - das zeigt die Konfrontation von soziologischer Analyse mit zeitgenössischen Bildern und ihrer Interpretation - bei weitem nicht so eindeutig, wie dies manche der heutigen Autoren darstellen. Gleichwohl kann Peuckert zu Recht verallgemeinernd feststellen:
"Nie zuvor war eine Form von Ehe und Familie so dominant wie in der Nachkriegszeit bis etwa Mitte der 60er Jahre. Die gegenwärtige Situation erscheint vielen auch deshalb als so krisenhaft, weil der Zustand vorher ungewöhnlich homogen war. Das moderne Ehe- und Familienmodell - die moderne Kleinfamilie als selbständige Haushaltsgemeinschaft eines Ehepaares mit seinen minderjährigen Kindern - hatte sich faktisch und normativ (als unhinterfragtes Leitbild) nahezu universell durchgesetzt."
(Peuckert, R.: Familienformen im sozialen Wandel. Opladen, 2.Auflage 1996, S.9)
D.h. die (spätestens) durch Dix ins Wanken geratene ideale Auffassung von Familie hat sich in der 2.Nachkriegszeit (des 20.Jahrhunderts) durch reale Lebensgewohnheiten in dem Maße durchgesetzt, daß Peuckert von einer "historisch einmaligen Situation" spricht.
 
Zwischenbemerkung (Anfang):
Dieser universelle Zustand der Gesellschaft scheint die Tendenz zu befördern, über vergangene Zustände gleichfalls repräsentative, allgemeingültige Aussagen machen zu wollen. Noch 1995/96 war dies an der Ausstellung im Landesmuseum Münster "Als die Frauen noch sanft und engelsgleich waren" zu beobachten. Als "Aufteilung der Welt" zur Biedermeierzeit galt der Ausstellungsmacherin:
Ihm die Aktivität, ihr die Passivität, das Erleiden und Erdulden,
ihm die Dynamik und ihr die Entwicklungslosigkeit,
ihm die "Kopf"- und ihr die "Hand-"arbeit,
ihm das Wissen, ihr die Unwissenheit,
ihm die Kultur, ihr die Naturbelassenheit,
ihm der Intellekt, ihr das Gefühl,
ihm das Laster, ihr die Tugend,
ihm die Welt und ihr das Haus usw. (Aus dem Faltblatt)
Folgerichtig liest man dann über Waldmüllers Bildnis eines Kartographen mit seiner Frau:
"Der hart und rastlos tätige Gelehrte bringt Leistung und Verdienst, die liebende Gattin Gefühl und Frömmigkeit in das Bild idealer Bürgerlichkeit."
(Aus dem Faltblatt)
... und während Harniers Familienbild fehlte, wurde das Bild seiner Tochter mit Puppe(!) gezeigt.
Ich unterdrücke an dieser Stelle einen Kommentar und verweise stattdessen auf den entsprechenden Katalog-Text zu diesem Bild, den ich im Musée imaginaire mit einigen "Lesehinweisen" versehen habe.
Zwischenbemerkung (Ende)
 
In dieser "historisch einmaligen Situation" der 50er und 60er Jahre in Westdeutschland sind es (wieder) Künstler gewesen, die erste Zeichen eines Zerfalls dieser Familienform beobachtet und pointiert dargestellt haben:

Harald Duwe (1926-1984); Sonntagnachmittag, 1956-60
(Die Wiedergabe dieses Bildes erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Frau Duwe-Ploog.)
"Kein Streit scheint vorgefallen zu sein - die wiedergegebene Situation ist ein Dauerzustand. Das ist es, was die würgende Realtität von Duwes Alltagsallegorien ausmacht. Auf den ersten Blick sind sie Zustandsbeschreibungen, die sich erst der genauen Anlyse als gefrorene gesellschaftliche Fixierungen zu erkennen geben. Leben in einer permanenten Betäubung, ausgelöst von den Freiheiten, die in Wirklichkeit Zwänge sind."
(Hofmann, W.: Tagesthemen. In: Jensen, J.Ch.: Harald Duwe. München/Kiel 1987)

Was war das eigentlich für eine Gesellschaft in den Jahren zwischen 1950 und 1970,
  • als die Frauen nach dem "Fehltritt mit den Besatzungskindern" von Jahr zu Jahr mehr der geltenden Moral entsprachen, brav heirateten und dann erst Kinder in die Welt setzten,
  • als eine entsprechend restriktive Gesetzgebung (Verschuldensprinzip) den Grundsatz der Unauflöslichkeit der Ehe aufrecht erhielt (40.000 Scheidungen im Jahr 1960 gegenüber 148.000 im Jahr 1995) und
  • als die Statistischen Jahrbücher überhaupt noch keine "Ledigen Kinder in unterschiedlichen Familienverhältnissen" kannten?
Es war eine Gesellschaft, in der für die Frauen die drei K's galten: Kinder, Küche, Kirche (nach Belieben auch in einer anderen Reihenfolge). Junge Mädchen hatten "keine Schande über ihre Familie zu bringen" und Mütter verabschiedeten selbst erwachsene Söhne mit dem Spruch: "Paß auf Dich auf!" Emanzipation (gesellschaftliche wie individuelle) war ein unbekannter Begriff.
 
Folgender Text mag einen Eindruck vom allgemeinen gesellschaftlichen Bewußtsein der damaligen Zeit vermitteln. Es handelt sich dabei keinesfalls um eine Satire, sondern um Werbung, die den Zeitgeist wohl kaum kritisierte, sondern ihn zutreffend beschreiben und als Verkaufshilfe nutzen wollte.
 
Text des Werbespots "Backen macht Freude"
 
Männerstimme:
Ein Mann will täglich auf's Neue gewonnen sein. Das haben wir Männer so an uns,
das sind wir gewöhnt und ... das wollen wir denn auch so haben.
Es macht Spaß zuzusehen, denn: BACKEN MACHT FREUDE
Eigentlich hat SIE es ja viel besser als ER: SIE darf backen.
So, jetzt aber Tempo, gleich wird Peter da sein mit einem Bären-Hunger.
Sie wissen ja: Eine Frau hat zwei Lebensfragen.
1. Was soll ich anziehen und
2. Was soll ich kochen?
Es ist erstaunlich, was ein Mann alles essen kann, wenn er verheiratet ist.
Anscheinend kommt auch der Appetit mit der Ehe.
 
Frauenstimme:
Ja, und das allerwichtigste für ihn ist der Pudding.
 
Männerstimme:
Richtig. Sie wissen ja: Männer, die gern Süßes essen, haben eine guten
Charakter. Kuchen macht uns Männer sanft und verträglich.
Da kann das neue Kleid ruhig hundert Mark mehr kosten ... oder sagen wir: fünf

Warum werden heutige Zustände immer mit den damaligen verglichen (Steigerungsraten von Scheidungen, von nicht-ehelichen Kindern, von Alleinerziehenden usw. beziehen sich immer auf die "Tiefststände", die in der Adenauer- und Nach-Adenauerzeit zu beobachten waren)?
Warum werden solche selbstbestimmten, von Frauen (mit)bestimmten Lebensformen bzw. Lebensverläufe so oft (und offensichtlich z.T. unbegründet) mit defizitären Folgen gekoppelt?
Wer betreibt eigentlich dieses "Geschäft" (einer Restauration mit dem Ziel der Wiedereinsetzuung der drei K's) und warum finden solche Behauptungen z.B. in der Lehrerschaft soviel Zustimmung?
"Sind tatsächlich die Familien-Kindheiten und die Kinderzahl pro Familie so problematisch oder ist nicht eher eine Pädagogik das Problem, die selbst im normativen Gebäude eines Mythos von idealer Familien-Kindheit gefangen ist, eines Mythos, der mit der historischen Realität von Familienkindheit(en) heute verdammt wenig zu tun hat?"
(Erdmann, Joh. W.: Was wissen wir über die "Einzel-Kindheit"? In: Erdmann, Joh. W./Rückriem, G./Wolf, E.(Hrsg.): Kindheit heute. Bad Heilbrunn 1996. S.81)
    Der derzeitige Wandel, den einige Autoren als "Verfall der Familie" beklagen, sollte daher auch weniger negativ als "zunehmende Pluralisierung der Lebensformen" beschrieben werden - und dies ist in demokratisch verfaßten Gesellschaften eine Normalität, der sich auch die bundesdeutsche Gesellschaft langsam nähert.
 
Nachtrag 2007 (Anfang):
Die derzeitige Diskussion um die Erhöhung von Krippenplätzen (zur Realisierung der den Müttern von der Politik immer wieder versprochenen Wahlfreiheit zwischen Berufs- und Haustätigkeit) zeigt, daß sich weite Teile der bundesrepublikanischen Meinungsmacher (Kirche, christliche Parteien, Medien) immer noch nicht von dem Kinder-Küche-Kirche-Modell verabschieden können.
Nachtrag 2007 (Ende)
 
Ich empfehle neben der Fortsetzung dieses Textes zum Weiterstudium:
  1. Peuckert, Rüdiger: Familienformen im Wandel.
    Opladen, 2.Auflage 1960, wenigstens die Seiten 9-40
  2. Den eben genannten Aufsatz von Erdmann
    In: Erdmann, Joh.W./Rückriem, G./Wolf, E. (Hg.):
    Kindheit heute. Bad Heilbrunn 1996. S.59-88
  3. und die Texte zu den gezeigten Bildern - soweit vorhanden (Bild anklicken).