"Mitten auf einer engen, von alten Häusern umgebenen Straße steht ein Sandkasten, schief und krumm aus Brettern zusammengenagelt, voll mit steinigem Sand. Steine und Erde liegen auch auf der Straße. Viele Kinder sind dort beisammen, immer in Gruppen von Zweien und Dreien. Aber nur wenige spielen friedliche Spiele.
Die meisten zanken sich, prügeln aufeinander ein und schreien sich an. Links in der Ecke stecken drei größere Jungen die Köpfe zusammen. Hecken sie etwas aus?
Es sind magere Kinder mit spitzen Gesichter; sie sehen älter aus als sie wirklich sind, haben schlechte Zähne und strähnige Haare, aufgeschwemmte Körper und runde, wegen der Läuse glattgeschorene Köpfe. Jedes Kind hat einen ganz besonderen Ausdruck im Gesicht; die meisten sehen frech, streitsüchtig oder verblödet aus.
Auch die Erwachsenen, die um die Kinder herumstehen oder aus den Häusern gucken, sehen mager, kümmerlich und böse aus.
Dieses Bild ist mit blassen Farben gemalt. Das weißliche Gelb wird nur an einigen Stellen durch helle Rottupfer unterbrochen. Alles wirkt dadurch blutarm und trübselig.
Der Karlsruher Maler Karl Hubbuch hat vor mehr als fünfzig Jahren solche Kinder in unserer Stadt beobachtet und dieses Bild von ihrem Leben gemalt. Er nannte es "Kinder, die unter Steinen aufwachsen". Wenn Du näher hinsiehst, entdeckst Du auch, welche Straße gemeint ist:
An der linken Hauswand unter dem Schild "Zimmer" ist ein Waldhorn eingemeißelt. "Zum Waldhorn" hieß eines der ältesten Karlsruher Gasthäuser, und nach ihm wurde eine der fächerförmig vom Schloß ausgehenden Straßen benannt: die Waldhornstraße. Sie führt in das "Dörfle", ein regellos entstandenes Stadtviertel, das sich seit der Stadtgründung zwischen den geraden Strahlen des Stadtgrundrisses ausbreitet. Hier wohnten von Anfang an die Bauleute, die das Schloß und die Stadt bauen mußten, einfache Handwerker, Hilfsarbeiter. Später kamen Trödler, entlassene Soldaten und alle anderen armen Leute dazu, die in der Stadt Karlsruhe kein Bürgerrecht bekamen. Sie hausten in kleinen Häusern in verwinkelten Gassen. Erst 1812 wurde das "Dörfle" eingemeindet. Um 1900 baute man an seinem Rande, in der Nähe der Kaiserstraße, höhere Häuser, aber das Dörfle blieb, wie es war und was es war: das Karlsruher Armenviertel. Hier wuchsen in schmalen Straßen und verbauten Hinterhöfen, in überfüllten, lichtlosen Wohnungen viele Kinder auf, umgeben von Erwachsenen, die durch Armut böse oder teilnahmslos geworden waren.
Karl Hubbuch starb 1979 in Karlsruhe. Er gehörte zu einer Gruppe von Künstlern, die nach dem Ersten Weltkrieg anfingen, das sie umgebende Leben wahrheitsgetreu zu malen. ...
Hubbuch hat die Straße nicht genau so gemalt, wie sie in Wirklichkeit aussah. Er rückte den Sandkasten in ihre Mitte und stellte ringsum hohe, alte Häuser auf. Dadurch machte er den Platz, den die Kinder zum Spielen haben, ganz eng. Da ihre Eltern nicht in einer Villa mit Garten wohnen, sondern in einem alten, überfüllten Stadtviertel, bleibt diesen Kindern als Spielplatz nur die Straße. Sie wachsen unter Steinen auf: dort, wo kein Baum wächst und keine Blume blüht, wo weder Luft noch Sonne hinkommen. Auch das wirkliche Aussehen der Kinder ist verändert. Auf den
Bleistiftzeichnungen, die der Maler als Skizzen zu seinem Bild machte, kann man es erkennen. Aus Mitleid mit den Kindern und aus Protest gegen die Umgebung, in der sie leben mußten, übertrieb er die Häßlichkeit der Formen und Farben. Er wollte damit erreichen, daß auch wir als Betrachter des Bildes Anteil an dem Elend der Kinder nehmen und versuchen, ihr Leben verändern zu helfen."
(Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hg.): Unsere Kunsthalle. Stuttgart, 3.Auflage 1988, S.50)
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