"Ein Mädchen und ein Junge sitzen in einer sonnigen Stube an einem Tisch. Es ist ganz ruhig. Das Mädchen liest, den Kopf aufgestützt, der Junge sitzt bequem auf einem Stuhl und schaut vor sich hin. Vielleicht bekommt er etwas vorgelesen. Das Zimmer ist einfach eingerichtet; ein Tisch, Holzstühle mit geflochtenen Strohsitzen, ein Spinnrad, an der Wand zwei Bilder und ein Kruzifix. Auf dem Holzboden liegen keine Teppiche. Das Zimmer sieht gemütlich aus. Das machen die hellen, in der Sonne leuchtenden Farben. Thoma hat sie sorgfältig in dem Bild verteilt. Blau fällt als erstes im Rock des Mädchens auf, aber dann auch in der Schleife am Spinnrad. Gelb erscheint in der Bluse und am Vorhang, ein wenig Rosarot an der Gardinenborte und an den Strümpfen des Jungen.
Das Licht kommt durch das Fenster links. Die gelbe Gardine davor verhindert, daß es zu hell im Zimmer wird. Es scheint durch die Wolle am Spinnrad, läßt die gelbe Bluse des Mädchens aufleuchten, den Jungen trifft es von vorn. Sieh mal, wie rosig seine Ohren und die herunterhängende Hand aussehen. Auch in der Gasflasche auf dem Tisch blitzt das Licht. Licht und Schatten wechseln sich ab. Du kannst gut verfolgen, wie die Farben im Schatten dunkler sind und im Licht heller.
Hans Thoma war ein Maler der Wirklichkeit. Besonders in seinen jungen Jahren malte er das, was er selbst kannte, und er malte es möglichst genau. Am liebsten nahm er Dinge des Alltags als Thema für seine Bilder. Das sieht man auch an diesem Bild. Ganz sicher war ihm eine solche Zimmereinrichtung aus den Häusern seines Heimatdorfes bekannt. Als Vorbild für das Mädchen benutzte er seine Schwester Agathe. An ihrem runden Gesicht und den aufgesteckten Zöpfen ist sie auf vielen Bildern immer gut zu erkennen.
Thoma hatte mit solchen Bildern überhaupt keinen Erfolg in Karlsruhe, wo er auf der Kunstschule malen gelernt hatte, sondern nur Ärger. Die Leute lehnten seine Bilder ab. Wenn Du Dich danach umsiehst, was noch in der Zeit zwischen 1860 und 1900 gemalt wurde, entdeckst Du Bilder, die denen von Thoma sehr ähnlich sind, aber auch solche, die Schlachten, ausgedachte Geschichten und unwirkliche Landschaften zeigen. Vor allem so etwas wollte das Publikum damals in den Museen und Ausstellung sehen. Hans Thoma ging deshalb aus Karlsruhe fort nach München, wo eine Reihe junger Maler arbeitete, die so wie er dachten und malten. Lange Jahre mußte er sehr armselig leben, bis sich seine Art zu malen durchgesetzt hatte und für ihn der Erfolg kam. Im Jahre 1899 wurde von der Kunsthalle das erste Bild von Thoma gekauft, ein Jahr später kam er selbst nach Kunstschule und Direktor der Kunsthalle zu werden. Er war damals schon 60 Jahre alt."
(Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hg.): Unsere Kunsthalle. Stuttgart, 3.Auflage 1988, S.44)
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