(Der Text dieser Führung ist - mit Zustimmung des Autors - entnommen aus Jörg Funhoffs 1979(!) erschienenen
Aufsatz: Bemerkungen zu einigen neueren Kinderbildern. Funhoff bezieht sich dort auf die folgenden
drei Bilder, weitere sind hier - mit dem Einverständnis des Künstlers - einbezogen worden,
weil sie Funhoffs Ausführungen verdeutlichen können.)
 
Peter Nagel, Spielkiste II, 1976 Peter Nagel, Spielkiste I, 1972 Peter Nagel, Ballonbläser, 1970
Peter Nagel (geb.1941)
Spielkiste II, 1976
Eitempera auf Leinwand; 120x110cm
Städtisches Museum, Flensburg
Peter Nagel (geb.1941)
Spielkiste I, 1972/73
Eitempera/Kunstharz auf Leinwand; 135x150cm
Niedersächsisches Landesmuseum, Hannover
Peter Nagel (geb.1941)
Ballonbläser, 1970
Siebdruck; 50,7x58cm
Berlinische Galerie, Berlin
 
Bei der Betrachtung neuerer Kinderbilder sind zunächst einige Fragen zu stellen:
  • Wie kommen die Maler überhaupt zu ihren Gegenständen?
  • Wie kommen sie zu ihrer Bildidee?
  • Welche Ausgangsmaterialien, welche Verfahren der Gestaltung prägen ihren Bildherstellungsprozeß?
  • Mit welchen Zielvorstellungen bilden sie ab?
  • Für wen bilden sie ab?
  • Welche Rolle spielen Kinder auf den Bildern?
  • In welchen Verhältnis steht die abgebildete Wirklichkeit zur Wirklichkeit der Kinder?
© A.Savin, Wikimedia Commons Dieter Richter unternimmt den Versuch, den kindlichen Lebensalltag zu kennzeichnen:
"Dieser Lebensalltag ist, nach der sozialen Herkunft des Kindes unterschiedlich, aber tendenziell einheitlich heute geprägt durch zwei Momente: die schwindende Erfahrungs- und Betätigungsmöglichkeit der Kinder und die zunehmende Pädagogisierung ihrer Lebensverhältnisse. Die bebaute Umwelt (vor allem der großen Neubausiedlungen) verweigert Kindern elementare sinnliche Erfahrungsmöglichkeiten: zu sehen, zu höhren, zu fühlen, zu riechen, - vor allem aber zu tun."
(Dieter Richter: Die Kinder und ihre strengen Freunde. In: Pädagogik Extra. Heft 1/1979, S.22)
Dies ist sicher als Zustand, vor allem jedoch als ein Prozeß zu verstehen, der je nach Ort (Land, Klein- oder Großstadt) und je nach spezifischen historischen Bedingungen unter- schiedlich weit fortgeschritten ist und weiter fortschreitet. Es deutet vieles daraufhin, daß elementare sinnliche Erfahrungsmöglich- keiten der Kinder in Zukunft noch mehr eingeengt werden - und daß das kindliche Verhältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit auch in Zukunft immer mehr von didaktisch- pädagogisch durchsetzten Einrichtungen, Verfahren und Gegenständen gefiltert wird. Unausgesprochen in Richters Kennzeichnungsversuch bleibt jedoch, wie und in welchem Maße sinnliche Erfahrungen innerhalb der genannten Bedingungen möglich sind und in welchem Maße sie sich gegen die Bedingungen durchsetzen.
Es ist wohl für einen Maler nicht einfach, Zeichen für kindliche Erfahrungen gesellschaftlicher Widersprüche ins Bild zu bringen. Es gilt, Kinder zu beobachten, mit ihnen Kontakt zu haben und sie zu verstehen; es gilt, ihre Erfahrungen konkret aufzunehmen - vielleicht die Möglichkeit der Verallgemeinerbarkeit zu prüfen und Zeichen zu finden, sie verständlich zu machen; es gilt aber auch zu bedenken, wer denn als Betrachter die Zeichen entschlüsseln kann, und auch, wer als Konsument im Sinne von Käufer für die Produkte in Frage kommen könnte.
 
Peter Nagel, Spielkiste II, 1972 Peter Nagel zeigt in seinem Bild Spielkiste II von 1976 ein Kind in einem Berg von kleinen grauen Kugeln, in dem sich auch einige Spielzeuge befinden. Das Kind steckt bis zu den Schultern darin, seine Arme sind nach vorn gestreckt, die Handflächen nach außen gedreht, als wollte es beginnen zu schwimmen. Die Kugeln scheinen gleiche Größe zu haben. Ihre allmähliche Verkleinerung zum Bildhintergrund hin ist das Hilfsmittel zur Darstellung von Bildräumlichkeit. Zwei größere Kugeln in der mittleren Bildzone signalisieren, daß sie ins Bild fallen oder dazugeworfen werden.
Die Kugeln sind entweder Bälle oder sie sind die bildnerische Abstraktion von Spielzeugen - der Bildtitel unterstützt diese Bedeutung. Ein Kind geht in einem Berg von Spielkram unter. Ein Kind schwimmt im Spielzeug. Der letzte Satz ist der Schlüssel zum Bildverständnis: Nagel geht aus vom Begriff, von der (Wort-) Metapher "in etwas schwimmen" im Sinne von "etwas im Überfluß haben". Die nagel-spezifische, starre Haltung des Kindes trägt zum Abstraktionsvorgang bei.
 
Peter Nagel, Spielkiste I, 1972 Nagels Spielkiste I von 1972/73 ist ein analoges, zugleich deutlicheres, detaillierteres Bild: sechs Kinder ertrinken in farbigen Bällen und Spielzeugen, wieder geht Nagel vom Begriff, von der Metapher aus. In diesem Fall stützt er sie eindeutiger durch verschiedene Bildzeichen: Zum einen hat die "Kiste" einen fliesenartigen Rand, zum anderen ist im Bildhintergrund hinter der Kiste der obere Teil einer Leiter, eines Schwimmbadeinstiegs erkennbar. Die Kinder stecken bis zum Hals in dem Gemisch aus farbigen Bällen (wiederum kommen einige von oben dazu) und Spielzeugen. Zwei Kinder greifen nach den Bällen, eins schneidet eine Grimasse, eins blickt nach oben, eins ist abgewandt, eins schreit. Wenn die Kinder unterzugehen drohen, so bemerken sie die Gefahr jedenfalls nicht. Ihre Aufmerksamkeit gilt dem Spiel. Hilfe ist nicht in Sicht. Spitzfindigkeit am Rande: Wäre das Bild keine visualisierte Metapher, sondern Abbildung eines wirklichen Konflikts, wäre die Gefahr so groß nicht - die Kinder könnten über die Leiter aussteigen.
Die Bildinformation verbalisiert ergibt fogenden Text: Nagels "Spielkisten" zeigen im Aussschnitt, daß Kinder unter einer Fülle von Spielzeug in Schwierigkeiten kommen, daß sie ins Schwimmen kommen, daß sie sich nicht recht zu helfen wissen. Sie zeigen sie abgeschnitten von sozialen Kontakten mit Erwachsenen und mit anderen Kindern - allein in einer Welt von abstrakten Objekten. Zu fragen ist, ob in den Bilden ein gegenständlicher Rest verbleibt, der durch den Text nicht erfaßt wäre.
 
Peter Nagel, Ballonbläser, 1970 ... Ein weiteres Bild Nagels zeigt im Bildzentrum ein Kind hinter aufgeblasenen, schwarz-weiß-gestreiften Ballons. Die größeren schweben diagonal nach rechts oben oder nach vorn ins Bild. Das Gesicht des Kindes ist von Ballons und von seiner Hand fast völlig verdeckt. Es bläst einen Ballon auf. Ob es dazu eine Hand zum Festhalten des Ballons benützt, damit er während des Aufblasens nicht fortfliegt, ist nicht erkennbar. Die rechte Hand hält es sich mit der Handfläche gegen die Stirn - etwa entsprechend der Geste des Sich- Vor- Staunen- Die- Hand- Gegen- Die- Stirn- Schlagens (oder vor Schreck, Abwehr, vor stummem Entsetzen). Es scheint erstaunt, aber nicht erfreut zu sein über das, was es produziert. Das Kind steht hinter einer Art Pult oder Kiste - das Objekt wird von der unteren Bildkante angeschnitten - die mit verschiedenfarbigen, kleinen Flecken bemalt ist. Es ist nicht genau festlegbar, um was für einen Gegenstand es sich handelt. Die Ballons sind anscheinend nicht - wie bei Luftballons üblich - mit einem verknoteten oder zugebundenen Schniepel zum Aufblasen ausgestattet. Allseitig rund fliegen sie in verschiedenen Formen und Größen durchs Bild. Der Maler steigert die Plastizität der Ballons durch die "Zebra"-Streifen. Ein Kind spielt in einem Arrangement aus Gegenständen, denen kleine Kennzeichen ihrer Gebrauchsfähigkeit als Spielzeug genommen sind. Abstrahierte Ballons vor einem erstaunten Kind, das hinter einer abstrahierten Kiste steht. Der Hintergrund ist rot. Die intensivsten Struktur- und Farbmerkmale tragen Hintergrund und Ballons, sie lenken gezielt vom Kind ab.
 
Peter Nagel, Schaukel, 1974 Peter Nagel, Platzende Ballons, 1976 Den Bildern Nagels ist gemeinsam das Interesse an plastischer, geglätteter Oberfläche (Nagel arbeitet in der Schlußphase der Bildherstellung überwiegend mit der Spritzpistole) der dargestellten Objekte. Den Gegenständen werden ihre Gebrauchsspuren, den Personen die individuellen Merkmale, den Situationen ihre Konkretheit genommen. Auffallend ist auch Nagels Interesse an schwierigen Schrägsichten. Untersichten oder Überdeckungen der Bildobjekte.
Der Bildgrund ist leer, trägt aber häufig einen intensiven Farbton. Die Kinder bleiben grau. Den übergeordneten formalen Zielen des Malers werden Ziel, Inhalt und kritische Potenz der Bildidee untergeordnet. Das alle Bilder in vielen Variationen durchlaufende Repertoire an Zeichen macht P. Nagels Bilder zu eindeutig und klar differenzierbaren, typischen Bildern.
Sie werden nach Fotovorlagen gemalt in einer Weise, die sie in ihrer Mimik un Gestik erstarren läßt. Die Dynamik der Gestik wird eingefroren.
Seine Bilder sind mehr oder weniger deutlich durch Begriffe oder Thesen vorfomuliert und in Bildzeichen umgesetzt. Damit entsteht die Frage, wie der Wirklichkeitsgehalt von Bildern zwischen artistischen Darstellungsanspruch und kritisch-inhaltlicher Absicht ausgependelt werden kann. Wie soll der Betrachter umgehen mit dem Verzicht auf Unmittelbarkeit im Sinne von Wiedererkennbar- keit realer kindlicher Erscheinungs- und Handlungsformen. Zweifellos ging es Nagel nicht darum wirkliche Kinder, wie sie alltäglich erfahrbar sind, in seinen Bildern zu reproduzieren: Kinder mit Interesse und Aktivität, mit Freude und Spaß, Kinder mit Ängsten, Zorn und Konflikten, mit Phantasie, Kinder als liebende und erotische Wesen, Kinder in Kooperation und Solidarität. Es bleibt im Betrachter die Frage zurück, warum der Maler das nicht tut.
 
Peter Nagel, Spielzeugsammler, 1984 Peter Nagel, Kind mit Bauklötzen, 1976 Als Ausgangspunkt dienen Fotos, sie werden aus ihrem Zusammenhang gelöst, die Kinder werden überarbeitet im Sinne von Glätten; Lebewesen erhalten eine graue, fast gipserne Oberfläche im Gegensatz zu Gegenständen; die Szenerie wird angereichert mit vorwiegend abstraktem Spielzeug. Es ist die Frage zu stellen, in welchem Maße in der Folge dieses Umgestaltungsprozesses eine kritischen Grundlage der Ausgangsidee erhalten werden kann. In der These, daß Kinder z.B. im Spielzeug ertrinken, scheint auf den ersten Blick die Beobachtung einer Erscheinung auf den richtigen Begriff gebracht. Es kommt ja tatsächlich vor, daß Kinder soviel Spielzeug haben, daß sie es selbst kaum überblicken. Sie haben dazu häufig ein ambivalentes Verhältnis: zum einen mögen sie ungern etwas hergeben, um anderen können sie (mit Ausnahme der beliebten Spielzeuge) vieles ohne Zögern und ohne Verlust verschenken, zerstören, liegenlassen. Undeutlich und unerwähnt bleibt in der These aber, welcher Art die aktuellen psychischen, die sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen sind, unter denen Spielzeug die Kinder "überschwemmt", ihnen geschenkt wird.
Die These von den ertrinkenden Kindern bleibt moralisch und läßt jegliche Zusammenhänge und politisch-sozialen Hintergründe aus. Eine Fehleinschätzung, die auch in Richters Aussagen enthalten ist, ist die des kindlichen Ausgeliefertseins. Die Aneignung seiner gesellschaflich-historischen Erfahrungen mit jeglichen Gegenständen stellt das Kind nicht für sich isoliert her, es ist nicht passiv, es ist den Gegenständen nicht ausgeliefert.
"Sondern die Beziehungen des Kindes zur gegenständlichen Wirklichkeit sind von Anfang an durch die Beziehung zu Menschen, durch Kommunikation, vermittelt."
(D.Elschenbroich: Spielen und Spielzeug. Aspekte zur Kritik bürgerlicher Theorien des kindlichen Spiels. In: Kursbuch 34, Berlin 1973, S.68)
(Jörg Funhoff: Bemerkungen zu einigen neueren Kinderbildern. In: Die gesellschaftliche Wirklichkeit der Kinder in der bildenden Kunst. Ausstellungskatalog Berlin 1979, S.320/323)