Bewahranstalt - Kleinkinderschule - Kindergarten: Diese im 19. Jahrhundert oft synonym verwendeten, nur schwer voneinander abgrenzbaren Begriffe sind aus einer Tradition heraus entstanden, die sich bis ins 18. Jahrhundert hinein verfolgen läßt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts forderten die Philanthropen für nicht schulpflichtige Kinder altersstrukturierte Lern- und Spielgruppen unter anleitender Aufsicht. Standesunterschiede sollten bei der Zusammensetzung der einzelnen Gruppen nicht berücksichtigt werden. Dieses richtungsweisende pädagogische Programm wurde im weiteren Verlauf aber an die jeweiligen standesspezifischen Anforderungen und finanziellen Möglichkeiten einzelner Betreuungsanstalten angepaßt.
Im 19. Jahrhundert entstanden zum einen Strick-, Klöppel- oder Spinnschulen, die hauptsächlich ältere Kinder aus ärmeren Bevölkerungsschichten aufnahmen, um sie früh in produktive Tätigkeiten einzuüben. Elementarunterricht wurde in diesen Institutionen nur sehr begrenzt erteilt; es ging vornehmlich um die Vorbereitung der Kinder auf ihr späteres Berufsleben.
Zum anderen wurden Spielschulen bzw. Warteschulen gegründet, die von Kindern aller Altersstufen vor ihrer Einschulung besucht werden konnten. Die Spielschulen der "besseren" Kreise waren dabei reich ausgestattet mit Spielzeug. Es wurden zu unterschiedlichsten Anlässen kleine Feste gefeiert, Puppentheaterveranstaltungen aufgeführt, bei denen nicht selten auch die Mütter der Kinder anwesend waren. In diesen Einrichtungen stand das gemeinsame Spiel im Vordergrund, ebenso wie der früh einzuübende Umgang mit gesellschaftlichen Anforderungen.
Dagegen wurden in den Warteschulen, die oftmals unter kirchlicher Trägerschaft standen, Kleinkinder von Arbeiterinnen abgegeben, die dort so lange zu warten hatten, bis die Arbeitszeit der Mütter beendet war. (Vgl. Zwerger, Brigitte: Bewahranstalt - Kleinkinderschule - Kindergarten. Weinheim 1980, S.33)
Das Bild von Liebermann veranschaulicht die Lebensbedingungen der Kleinkinder in solchen Warteschulen. Die strickende Frau rechts im Hintergrund des Bildes beaufsichtigt die Kinder; sie scheint vollkommen in ihre Arbeit vertieft zu sein, ohne sich besonders um die Kinder zu kümmern oder deren Ausbildung und Beschäftigung als ihre Hauptaufgabe zu betrachten.
Die Kinder sitzen auf niedrigen Bänken oder auf dem Boden herum, teils isoliert, teils aufeinander bezogen oder ins Spiel miteinander vertieft. Besonders das Mädchen im blauen Kleid links vorn im Bild macht einen versonnenen, fast schon apathischen Eindruck.
Der Raum insgesamt wirkt sehr düster und ärmlich, von dem ausgeblichenen Dielenfußboden über die einfachen Holzbänke bis zu den schmutzig-dunkelbraunen Wänden. Kinderspielzeug fehlt, die ärmliche Kleidung der dargestellten Personen vervollständigt diesen deprimierenden Eindruck.
Die nichtfamiliale Sozialisation der Kinder im Alter von zwei bis sieben Jahren wurde vor allem im 19. Jahrhundert in noch größerem Umfang als hier skizziert von Gegebenheiten und Bedürfnissen bestimmt. Insgesamt lassen sich aber trotzdem - jeweils unterschiedlich akzentuiert - die Leitvorstellungen vorschulischer Erziehung mit den Stichworten Beschützen, Vermittlung von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnissen und Charakterbildung umschreiben.
(Text: Elke Richlick)
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