Das Bild zeigt eine Szene nichtfamilialer Kinderbetreuung und -erziehung. Die Notwendigkeit einer außerhäuslichen Versorgung und Erziehung der Kinder im Alter von zwei bis sieben Jahren entstand seit dem späten 18. Jahrhundert aus den sich anbahnenden Umwälzungen des Arbeits- und Familienlebens. Zur Sicherung des Lebensunterhaltes mußten im 19. Jahrhundert alle arbeitsfähigen Familienmitglieder einem außerhäuslichen Erwerb nachgehen. Kinder im Vorschulalter belasteten die Familie, weil durch sie ein arbeitsfähiges Mitglied der Familie zur notwendigen Beaufsichtigung gebunden wurde. (Vgl. Erning, Günter: Geschichte des Kindergartens. Freiburg i.Br. 1987, S.17)

"Wie manches bedrängte Weib wäre ihrer peinlichsten Sorgen entlastet, könnte den Ihrigen durch fleißige Arbeit und unermüdete Geschäftigkeit zu weiterm Emporkommen recht viel sein, wenn die Pflege ihrer Kinder bis zum vierten und fünften Jahre es nicht hinderte; wie manche muß die Kleinen verlassen und bebt nun im Kampf zwischen Brotsorgen und der Angst, wie es ihren armen Kindern ergehen wird, während sie fern ist. Wie manche bis dahin ziemlich bemittelte beginnt zu verarmen, sobald der Himmel ihre Ehe reichlich segnet, und betrachtet dann das schönste Geschenk Gottes, gesunde, zahlreiche Nachkommenschaft, als Bürde, als Unglück."
(Fürstin Pauline v.Lippe-Detmold, 1803; zit.n.: Hoffmann, Erika: Vorschulerziehung in Deutschland. Witten 1971, S.87)

Allein die Betreuung mehrerer Kinder aus unterschiedlichen Familien durch eine einzige Person bot sich hier als ökonomische Lösung dieses Problems an. Wie auf dem Bild gezeigt, wurden häufig ältere, nicht mehr arbeitsfähige Frauen zur Beaufsichtigung bestimmt. Die Aufgabe der hier dargestellten Frau ist es, die Kinder bei ihren vielfältigen Beschäftigungen zu betreuen: Mit der Brille auf der Nase korrigiert sie erste Schreibversuche und gibt Anleitungen zum Lesen und Handarbeiten. Deutlich wird dadurch die doppelte Funktion dieser Einrichtung als Kleinkinderschule und Strickschule zugleich.
Die Lebendigkeit des Bildes wird durch die Aktivitäten der Kinder erzeugt: Das älteste Mädchen vorn rechts im Bild beschäftigt sich mit Handarbeiten. Ihr Gesichtsausdruck verrät den Ernst, mit dem sie ihrer Arbeit nachgeht, die nichts mehr mit den spielerischen Beschäftigungen der anderen Kinder zu tun hat. Im Gegensatz dazu betrachtet das vor ihr knieende Mädchen ein Bilderbuch, den populären Struwwelpeter, während sich die auf der Bank sitzende Jungengruppe mit Schreibübungen auf holzeingefaßten Schiefertafeln befaßt.
Die Bandbreite möglicher und vor allem auch tolerierter Verhaltensweisen wird durch das in der Mitte des Bildes sitzende Kinder-Paar verdeutlicht: Vom überaus fleißig arbeitenden, "kerzengerade" sitzenden Mädchen im weißen Kleid bis zum untätig dahinter sitzenden Kind, das mit gelangweiltem Gesichtsausdruck den Kopf auf den Tisch gelegt hat. Ebenfalls sich selbst überlassen ist das auf dem Boden sitzende Kleinkind vor der Tür. Die Mädchen in der linken Bildhälfte beschäftigen sich sowohl mit der Betrachtung von Bilderbüchern als auch mit Schreibarbeiten.
Der dargestellte Raum wird offensichtlich nicht nur als Schulraum genutzt. Es sind weder Sitzbänke, Lehrerpult noch Tafel, stattdessen aber das notwendige Mobiliar eines kleinbürgerlichen Wohnraumes vorhanden, so daß z.B. ein Mädchen vorn links im Bild auf einem für sie viel zu großen Stuhl sitzen muß. Das rechts an der Wand hängende Christus-Bild verweist zudem auf einen religiösen Hintergrund. Insgesamt wirkt der Raum kahl und trotz des durch die vielen Fenster einfallenden Lichtes düster. Typisches Kinderspielzeug fehlt; die den Kindern zur Verfügung gestellten Materialien belegen die propädeutische Funktion von Kleinkinderschulen.

(Text: Michael Heitkämper/Elke Richlick)