Die Entstehung der modernen Kleinfamilie als familialer Normaltypus


Wenn, wie häufig zu lesen ist, die Familie in der Bundesrepublik - und die Familie in westlichen Industriegesellschaften generell - eine Krise durchmacht, so wird unterstellt, daß es ein allgemein verbindliches Grundmuster familialen Zusammenlebens gegeben hat, das sich aufzulösen beginnt. Die heutige Situation erscheint vielen auch deshalb als so krisenhaft, weil die gegenwärtigen Veränderungen vor dem Hintergrund einer historisch einmaligen Situation gedeutet werden. Nie zuvor war eine Form von Familie in Deutschland so dominant wie Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre dieses Jahrhunderts. Das moderne Ehe- und Familienmuster, die moderne Kleinfamilie (auch Gattenfamilie oder "privatisierte Kernfamilie" genannt) - d.h. die selbständige Haushaltsgemeinschaft eines verheirateten Paares mit seinen unmündigen Kindern - war eine kulturelle Selbstverständlichkeit und wurde von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung auch unhinterfragt gelebt.
 
Die Entstehung dieses Familienmodells kann als Ergebnis eines langfristigen strukturell-funktionalen Differenzierungsprozesses von Gesellschaft gesehen werden. Während alle älteren Gesellschaftsformationen aus mehr oder weniger gleichartigen, alle zentralen gesellschaftlichen Funktionen selbständig erbringenden Sozialverbänden bestanden, hat sich in Europa im Verlauf der neuzeitlichen Entwicklungen (insbesondere im 19. Jahrhundert) ein Gesellschaftstypus mit eigenständigen gesellschaftlichen Teilbereichen (wie Wirtschaft, Politik, Religion, Recht, Wissenschaft) herausgebildet, die jeweils ganz bestimmte, gesellschaftlich notwendige Funktionen erfüllen. Der Strukturwandel der Familie in der Moderne stellt sich so betrachtet als Prozeß der Auslagerung von (aus heutiger Sicht) nichtfamilialen Funktionen (wie Produktion, Ausbildung, Altersversorgung) und der Spezialisierung der sich herausbildenden Familie als ein Teilsystem der Gesellschaft auf einen nur ihr eigenen Funktions- und Handlungskomplex dar. Die ehedem vor allem von ökonomischen Anforderungen bestimmten familialen Beziehungen sind im Verlauf dieses Prozesses zugunsten emotionaler Beziehungen zurückgetreten.
 
Bereits vor Beginn der Industrialisierung gab es in Deutschland eine Vielzahl unterschiedlicher, nebeneinander existierender Familienformen. Gleichzeitig waren große Teile der Bevölkerung gezwungen, ohne eigene Familie zu leben, da ihnen die Heirat rechtlich untersagt war oder ihnen die hierfür erforderlichen materiellen Voraussetzungen fehlten. Struktur und Funktion der Familien waren eng mit der Produktionsweise der verschiedenen Bevölkerungsgruppen veknüpft. Die vorindustrielle Wirtschaft war überwiegend Familienwirtschaft, und die Familien waren primär Produktionstätten. Das wichtigste und am weitesten verbreitete Wirtschafts- und Sozialgebilde war die besonders für die bäuerliche und handwerkliche Lebensweise typische Sozialform des "ganzen Hauses", das eine Vielzahl gesellschaftlich notwendiger Funktionen (Produktion, Konsumtion, Sozialisation, Alters- und Gesundheitsvorsorge) erfüllte. Zentrales Merkmal des "ganzen Hauses" war die Einheit von Produktion und "Familienleben". Dem "Hausvater" unterstanden nicht nur die verwandten Familienmitglieder. Nichtverwandte Angehörige des Hauses, wie Knechte und Mägde auf den Bauernhöfen und Gesellen und Lehrlinge bei den Handwerkern, zählten in gleicher Weise zum Hausverband. Die Einheit von Produktion und Haushalt bedeutete, daß affektiv-neutrale (gefühlsarme) Beziehungen gegenüber Emotionen ein deutliches Ubergewicht besaßen. Dies gilt in gleicher Weise für das Verhältnis der Geschlechter zueinander wie für die Stellung der Kinder. Ausschlaggebend für die Partnerwahl waren ökonomische Momente (Arbeitskraft, Mitgift der Frau). Zu den Kindern, die eher als potentielle Arbeitskräfte angesehen und behandelt wurden, bestanden gesindegleiche, relativ gefühlsarme Beziehungen. Die lange Zeit, teilweise heute noch, mit dem Bild des "ganzen Hauses" eng verbundene Vorstellung einer Großfamilie mit Großeltern, Eltern und zahlreichen Kindern (Dreigenerationenhaushalt) als dominanter Familientypus der vorindustriellen Zeit gilt, schon aufgrund der demographischen Verhältnisse (niedrige Lebenserwartung, hohes Heiratsalter, hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit), mittlerweise als widerlegt, so daß Mitterauer zu Recht vom "Mythos von der vorindustriellen Großfamilie" spricht.
 
Mit der Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise im Verlauf der Industrialisierung und der hiermit verbundenen Trennung von Arbeits- und Wohnstätte büßte die Sozialform des "ganzen Hauses" an Bedeutung ein. Als Folge gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse kristallisierte sich zuerst im gebildeten und wohlhabenden Bürgertum (hohe Beamte, Unternehmer, Kaufleute), wo Frauen und Kinder von der Erwerbsarbeit freigestellt werden konnten, ansatzweise der Typ der auf emotional-intime Funktionen spezialisierten bürgerlichen Familie als Vorläufermodell dermodernen Familieform heraus.Die bürgerliche Familie unterscheidet sich in zentralen Punkten von dem multifunktionalen Lebenszusammenhang des "ganzen Hauses":
  1. Wohnung und Arbeitsstätte sind getrennt; die Produktion findet - eine maßgebliche Vorausset- zung für die Privatisierung des familialen Zusammenlebens - außerhalb der Familie statt.
  2. Gesinde und Dienstboten sind räumlich ausgegliedert und erhalten zunehmend Angestelltenstatus.
  3. Die bürgerliche Familie bildet einen privatisierten, auf emotional-intime Funktionen spezialisierten Teilbereich. Das Leitbild der Ehe als Intimgemeinschaft hebt, im Unterschied zur relativen Austauschbarkeit der Partner im "ganzen Haus", die Einmaligkeit und Einzigartigkeit des Partners hervor. "Liebe" wird zum zentralen ehestiftenden Motiv.
  4. Es erfolgt eine Polarisierung der Geschlechtsrollen. Dem Mann wird die Rolle des Ernährers zugeschrieben. Die Frau wird aus der Produktion ausgeschlossen und auf den familialen Binnenraum verwiesen.
  5. Kindheit wird zu einer selbständigen, anerkannten Lebensphase. Die Erziehung des Kindes wird zur "ureigensten" Aufgabe der Frau.
Mit dem Aufstieg des Bürgertums (etwa seit 1830) wurden die sich in der privatisierenden Kleinfamilie herausbildenden Funktionen normativ überhöht und als kulturelle Leitbilder postuliert. Das bürgerliche Ehe- und Familienleitbild verbindet die persönliche Verantwortung der Eltern für ihre leiblichen Kinder, wie sie den Ideen der Aufklärung entspricht, mit der im Zeitalter der Romantik entwickelten Intimauffassung von Ehe und Familie. Im bürgerlichen Familienleitbild werden die familialen Beziehungen zwar romantisiert gesehen, gleichzeitig werden sie aber auch rechtlich-sittlich verpflichtend gemacht.
 
Bürgerliche Familien dieses Typs waren im 19. Jahrhundert zahlenmäßig relativ selten. Sie erlangten ihre historische Bedeutung vornehmlich durch ihre Leitbildfunktion (auch für andere Sozialschichten). Auch für weite Kreise des Bürgertums bestand, schon aufgrund ihrer ökonomischen Lage, eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem verkündeten Ideal und der praktizierten Lebensweise. In den Arbeiterfamilien kann trotz Wegfalls der Heiratsbeschränkungen von einer der bürgerlichen Familie vergleichbaren Emotionalisierung und Intimisierung des Familienlebens schon aufgrund der randständigen sozio-ökonomischen Lage (niedrige Löhne, Arbeitslosigkeit), der notwendigen Erwerbsarbeit der Ehefrau (und Kinder) und der beschränkten Wohnverhältnisse (z.B. Untervermietung in Form des "Schlafgängertums") nicht die Rede sein. In normativer Hinsicht lassen sich allerdings Annäherungen beobachten. Das bürgerliche Familienideal mit der Vorstellung der nicht erwerbstätigen Hausfrau und Mutter wird auch unter Arbeiterfrauen immer populärer.
 
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts läßt sich eine zunehmende und alle Schichten umgreifende normative Orientierung am bürgerlichen Familienideal feststellen. Praktiziert wird dieses Leitbild aber zunächst nur von einem relativ kleinen Kreis privilegierter bürgerlicher Schichten. Zwar zeigen sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mitbedingt durch soziale Umschichtungsprozesse, wie der Zunahme des Angestelltenanteils, gewisse Verbürgerlichungstendenzen. Letztlich waren jedoch alle Bemühungen zur Durchsetzung des bürgerlichen Familientyps relativ erfolglos, da es in der krisenhaften Zeit bis 1950 nicht gelang, deutliche Verbesserungen des Lebensstandards für die Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen.
(Aus: Peuckert, R.: Familienformen im sozialen Wandel. Opladen, 2.Auf. 1996, S.22f.)