Textdokument 1 zu:
Hanefi Yeter; Analphabeten in zwei Sprachen, 1978
"Schon der Titel des Bildes weist auf ein Problem hin, das sich als Folge von Emigration immer deutlicher aufbaut: zwischen den Sprachen und damit zwischen den Kulturen zu stehen. Besonders für die Kinder aus den Emigrationsfamilien stellt sich dieses Problem sehr deutlich: sie fühlen sich als 'Fremde in zwei Welten'. Yeter nimmt für sein Bild dieses Problem sehr wörtlich und versetzt den Betrachter in eine Schulsituation: er stellt zwei Schüler, einen Jungen und ein Mädchen vor eine traditionelle Wandtafel in einem Klassenraum. Auf dieser ist sowohl in deutscher als auch in türkischer Sprache geschrieben, auf der rechten Seite erkennt man zudem Schülerzeichnungen und verschiedene Kritzeleien. Die beiden Jugendlichen stehen vor dieserTafel wie vor einer Folie und wirken durch die Standhaltung, die zusammengenommenen Hände, die überlängten schmalen Körper nicht nur in sich zurückgezogen und isoliert, sondern durch die locker aufgerissene und Konturen verwischende Malweise schwebend, geradezu unsicher, verängstigt und eingeschüchtert. Obwohl die beiden dicht aneinandergerückt sind, was ihre offensichtliche Zusammengehörigkeit betont, sind sie nicht einander zugewandt, sondern schauen in verschiedene Richtungen und verkörpern in ihrer Haltung kulturelle Vorstellungen, die ihnen von ihren Eltern und anderen Familienmitgliedern vermittelt werden. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch die Kleidung des Mädchen - es trägt unter seinem Rock lange Hosen. Der Sprachlosigkeit der beiden setzt Yeter den Tafeltext und ihrer gegenseitigen Isolation die Schülerzeichnung am rechten Tafelrand gegenüber. Kay legt seinen rechten Arm um die Schulter von Gabi. Der Widerspruch ist eindeutig dem Bild zu entnehmen: "denn Ayse darf nicht nach schule" - und auch nicht was Gabi und Kay tun. Diesen kulturellen Zwiespalt, dem die beiden türkischen Jugendlichen an einer deutschen Schule ausgesetzt sind, drückt das Bild aus.
Der Bildappell an beide Seiten, die deutsche und die türkische, enthält in den dominierenden blauen und grauen Farbklängen eine poetische Komponente. Es drückt sich darin auch ein Grundelement von Hoffnung aus, das für viele Bilder Hanefi Yeters charakteristisch ist."
(Hinkel, Hermann: Aufforderungen - Gesellschaftliche Widersprüche im Spiegel der Gegenwartskunst. In: Gesellschaft im Widerspruch. Essen/Dortmund 1994, S.162)
|