Textdokument 3 zu:
Hanefi Yeter; Analphabeten in zwei Sprachen, 1978
Betr.: Joh.Grützke: "Komm, setz' dich zu uns", 1970

"Ein sicherlich grundsätzliches Problem unserer Gesellschaft ist darin zu sehen, daß viele Menschen Andersdenkende und ganz besonders Fremde von den eigenen Lebensbereichen fernhalten wollen.
Eigene Unsicherheiten und Schwächen, Ängste vor Konkurrenz und Besitzstandsdenken führen zu diesem Verhalten, das leicht in Abwehr; ja sogar Haß und Gewalt umschlagen kann, ,,Komm, setz' dich zu uns" von Johannes Grützke (1937-2017) verbildlicht diese Einstellung, stellt sie als Widerspruch dem Betrachter vor.
Drei Männer beherrschen die Szene und schauen schräg von oben aus dem Bild. Sehr schnell erkennt man, daß - außer den Krawatten - sie nicht nur völlig gleich gekleidet sind, sondern dreimal dieselbe Person in verschiedenen Haltungen darstellen. Es handelt sich dabei um den Künstler selbst.
... Die drei konventionell gekleideten Männer sitzen nur scheinbar locker und lässig dem Betrachter gegenüber; denn man spürt ihre Verkrampftheit, die sich mit einer 'satten' und überheblichen Haltung verbindet. Der Blick von oben aus dem Bild - ein beliebtes Stilmittel von Grützke - versetzt den Betrachter eindeutig in die schwächere Position. Verstärkt wird diese Sichtweise noch durch den Handgestus des links sitzenden Mannes, der den 'Neuankömmling' geradezu 'gnädig' ins Bild holt. Die zoomartig wie bei einer Fotografie vergrößerte Hand ragt beinahe aus dem Bild heraus scheint - den Betrachter geradezu ergreifen zu wollen.
Zusammen mit der direkten Ansprache im Bildtitel 'Komm, setz' dich zu uns', wird die Provokation der Szene deutlich: Denn wer möchte sich tatsächlich zu dieser grinsenden und feixenden Gruppe setzen, die 'von oben herab' dem Neuankömmling mit hohlen Gesten einen Platz anbietet, der zudem im Bild nicht vorhanden ist, Denn die drei Männer füllen in dieser abgeschlossenen Komposition den Raum völlig aus, In dieser Dreieckskomposition, die in dem auf dem Kofferraum eines Autos sitzenden Mann nicht zufällig ihre höchste Position hat, sind alle Plätze verteilt, Die Aufforderung erscheint somit nicht nur scheinheilig und unecht, sondern höhnisch und mitleidslos,
Infolgedessen kann diese Szene nicht lediglich als satirisches Bild männlichen Gruppenverhaltens abgetan werden, sondern muß als Hinweis auf das Verhalten und Denken mancher Gruppen unserer Gesellschaft gegenüber den 'Nicht-Dazugehörenden' und Fremden angesehen werden. Wen der Künstler konkret damit meint, überläßt er dem Betrachter und dessen aktuellen Erfahrungen,"
 
(Hinkel, Hermann: Aufforderungen - Gesellschaftliche Widersprüche im Spiegel der Gegenwartskunst. In: Gesellschaft im Widerspruch. Essen/Dortmund 1994, S.160f.)