Textdokument 4 zu:
Hanefi Yeter; Analphabeten in zwei Sprachen, 1978
Betr.: Felix Nussbaum: Jaqui auf der Straße, 1944

Felix Nußbaum thematisiert "in seinem Bild Jaqui auf der Straße eine 'andere Kindheit'. Es ist die extreme Situation eines jüdischen Kindes während der Herrschaft der Nationalsozialisten. Nußbaum wählt dabei für sein Bild zwar die Situation eines bestimmten Kindes, meint aber auch seine eigene - wie überhaupt die Situation der Juden während des Faschismus.
... Wie all seine in dieser Zeit entstandenen Arbeiten ist es eine Auseinandersetzung mit der eigenen Situation als Dokumenr für später: Es soll festhalten und bewußtmachen, was in dieser Zeit geschehen ist. Als verfolgter Jude lebte Nußbaum heimlich im Keller, malte und versteckte dort auch seine Bilder. Er lebte nach abenteuerlicher Flucht zuletzt in Brüssel, von Freunden zusammen mit seiner Frau und einigen anderen Juden versteckt; darunter war auch Jaqui. Als Bildgründe konnte er nur benutzen, was ihm in dem Versteck zur Verfügung stand; Bildträger ist hier das Stück einer ausgefransten, rundum durchlöcherten Holztafel, wohl Teil eines alten Schrankes. Er malte dieses Bild 1944, wenige Monate bevor eben dieser Junge durch eine Unachtsamkeit die Verhaftung der Gruppe auslöste: Jaqui verließ am Tage das Versteck der Gruppe, um sich bei einem Friseur die Haare schneiden zu lassen. Da zu dieser Zeit Kinder seines Alters üblicherweise in der Schule waren, fiel er auf - er sagte wohl, daß er als Jude nicht zur Schule gehen dürfe. Die Gruppe erwartete nun eine Verhaftungsaktion. Da das Versteck nicht mehr sicher schien, wurde es gewechselt, Jaqui entkam vorläufig nach Frankreich. Dennoch kommt es zur Verhaftung der Gruppe durch die Gestapo. Die Listen des letzten Deportationszugs aus Mechelen nach Auschwitz enthalten die Namen von Felix und Felka Nußbaum; man muß davon ausgehen, daß auch Jaqui der Verfolgung in Frankreich und dem Tod in einem der Vernichtungslager nicht entgangen ist.
Nußbaums Bilder - darunter auch dieses hier - waren in Kellerräumen versteckt und wurden erst nach dem Krieg entdeckt. Restauriert sind sie u. a. in Osnabrück, dem Geburtsorr des Malers, zu sehen.
Jaqui - etwa 10 Jahre alt - steht groß, schlank und schmal vor unüberwindlich scheinenden Mauern einsam auf der Straße. Die Augen sind traurig und ängstlich, die zu kurzen Hosen lassen die unsichere Haltung der Füße noch deutlicher werden und verstärken zusammen mit den hinter dem Rücken gehaltenen Händen den Eindruck des Ungeschützten. Von der dunklen Kleidung hebt sich der Judenstern auf der linken Brust grell ab.
Die Komposition des Bildes, der Verlauf von Straße und Mauern, die Haltung des Jungen, aber auch die eingeschränkte Farbigkeit sowie die Beleuchtung der Szene signalisieren die Ausweglosigkeit. Die nach hinten führende Straße ist nicht Fluchtweg, sondern eher Weg in Gefangenschaft und Vernichrung. Der gelblich leuchtende Himmel bedeutet Gefahr und erhöht die Spannungsgeladenheit der gesamten Szene. Die Lichtführung beschreibt die Situation der Menschen in dieser Lage: Leben zwischen Tag und Nacht, zwischen Angst und Hoffnung."
 
(Hinkel, Hermann: Kinderbildnisse. Köln 1988, S.61ff.)