Textdokument 5 zu:
Hanefi Yeter; Analphabeten in zwei Sprachen, 1978

Über Sprache - zwei Szenen

Szene 1 (2018)
Nesrin, Tochter einer kurdisch-syrischen Flüchtlingsfamilie, um die sich das Ehepaar H. kümmert, hat eine schmerzhafte Warze am Fuß. Bei den Erklärungen des Arztes und der Apothekerin hat sie (mal wieder) nur genickt, dabei hatten Herr und Frau H. sie mehrfach darauf hingewiesen, daß sie nachfragen muß, wenn sie etwas nicht verstanden hat. Sie kam also mit ihren Medikamenten zu Herrn H., der ihr dabei half, die richtige Anwendung zu verstehen.
"Mach' das jetzt bitte eine Woche so und dann sprich noch mal mit meiner Frau, ich bin ab morgen nicht mehr da", sagte Herr H.
"Wo sind Sie denn dann?", fragte Nesrin.
"Ich mache Ferien und fahre ins Gutshaus meines Sohnes". antwortete Herr H.
Nesrin schwieg, man sah ihr an, daß sie überlegte - und dann fragte sie: "Was ist ein gutes Haus?"
Herr H. unterdrückte ein Lächeln. Nesrin hatte sich immerhin getraut, eine Frage zu stellen und es war eine "gute" Frage - schließlich gibt es ja auch Schlechtwetter und Rotkohl - aber was ist dann ein Großvater?
Der Umgang mit und das Erlernen von substantivischen Komposita führt zwar bei deutschen Kleinkindern zu den lustigsten Wortschöpfungen, aber für Migranten ist das eine der vielen Herausforderungen, die das Erlernen der deutschen Sprache erschweren.
 
Szene 2 (2020)
Zwei Jahre später. Nesrin geht inzwischen in die siebte Klasse des nahen Gymnasiums (am Ende des Schuljahrs wird sie in die nächste Klasse versetzt werden.)
Nesrin unterhält sich mit Frau H. oft über die Probleme, die sie bedrücken.
"Ich muß bei uns in der Familie immer alles übersetzen, wenn die anderen es nicht verstehen. Dann soll ich Briefe vom Amt meinem Vater erklären. Ich verstehe das aber oft selber nicht."
Frau H. kennt das Problem. "Wir schaffen das" war ein einfacher Satz, aber die Bürokratie braucht dazu "Antragsberechtigte", "Zuwendungsbescheide", "Bewilligungszeiträume" u.a. Begriffe, die zu übersetzen gar nicht, zu erklären schwer ist - aber das erwartet eine Flüchtlingsfamilie von ihrer 12-jährigen Tochter.
"Und" - fährt Nesrin fort - "ich weiß manchmal schon gar nicht mehr, wie ein deutsches Wort auf Kurmandschi heißt, ich habe das vergessen."
- und deshalb ist Nesrin manchmal sehr traurig.