Der "Wandel" des bürgerlichen Familienideals

- im Spiegel der Statistik eine sehr fragwürdige Behauptung -
Ich bleibe mißtrauisch:
Sind die seit den 70er Jahren zu beobachtenden Tendenzen wirklich Zeichen einer grundlegend veränderten Vorstellung von "Familie" oder handelt es sich eher um zeitbedingte (statistisch erfaßte) Schwankungen - festgemacht an z.Zt. steigenden Prozentsätzen verschiedener "moderner" Alternativen zum bürgerlichen Familienideal?
 
So fällt auf, daß die bei Peukert (Familienformen im sozialen Wandel. Opladen, 2.Auflage 1996) vorgestellten "Modernen Alternativen zur Eheschließung" (so die Überschrift zum 3.Kapitel) wie Alleinleben, nichteheliche Lebensgemeinschaften weniger als Alternativen, sondern mehr als temporäre Lebensphasen angesichts veränderter gesellschaftlicher Umstände (längere Ausbildungszeiten, steigende Verwitwung u.a.) angesehen werden müssen.
 
Ich sammele auf dieser Seite Hinweise dafür, daß dieser "Verfall" der Familie möglicherweise gar nicht stattfindet, weil
  • sich die "Alternativen" nicht wirklich als dauerhafte, die Familie ersetzende Lebensform durchsetzen - sie entpuppen sich als zum Teil möglichst schnell zu beendende Notlösungen (alleinerziehende Mütter und Väter) oder als in der Lebensgeschichte der Einzelnen vorübergehende Stadien (Ehe ohne Trauschein).
  • sich statistische Effekte auswirken, die bei näherem Hinsehen gar keine Belege für die "Verfalls"-These darstellen - so die zahlenmäßig zugenommenen Einzel-Haushalte junger Menschen vor der Eheschließung und älterer Menschen nach dem Tode des Ehepartners bzw. (seltener) der Ehepartnerin.
  • sich die nächste Generation (also die in den 80er Jahren Geborenen) ungebrochen zum klassischen Familienideal bekennt.
Zitat "Die große Mehrheit der Befragten strebt ganz traditionell die Ehe als Form des Zusammenlebens mit einem Partner an. Es wird oft - auch in der jüngsten Gruppe der 14 bis 16jährigen - explizit vom Heiraten gesprochen. Wie in früheren Zeiten wird mit dem Heiraten die Vorstellung von einer Hausstandsgründung verbunden. ... Feste Partnerschaften und Treue stehen bei den befragten Jugendlichen hoch im Kurs."
Quelle Bundesverband deutscher Zeitungsverleger e.V. (Hg.)
Jugendkultur und Mediennutzung. Bonn 1996, S.33
empirische Basis 80 psychologische Tiefeninterviews mit 14 bis 20jährigen Jugendlichen
je 50% weibliche und männliche Probanden
in Emden, Düsseldorf, Hannover, Mannheim, München und Rostock.
Zitat "Mit Hilfe des Kinderbarometers (einer siebenstufigen Erhebungsskala - P.K.) wurden die Kinder gefragt, was ihnen am Leben wirklich wichtig sei.
Mit 38% aller Nennungen und großem Abstand zu den anderen Punkten ist den Kindern in NRW die eigene Familie wirklich wichtig." (S.17)
"An erster Stelle der Dinge, auf die sich die Kinder am meisten in der Zukunft freuen, liegen Äußerungen zu einer eigenen Familie und Partnerschaft (18% aller Nennungen)." (S.18)
Quelle LBS-Initiative Junge Familie (Hg.)
LBS-Kinderbarometer NRW
Stimmungen, Meinungen, Trends von Kindern in Nordrhein-Westfalen.
Ergebnisse der Erhebung im Schuljahr 1998/1999 (zweites Erhebungsjahr)
Ein Projekt der "LBS-Initiative Junge Familie" in Zusammenarbeit mit dem Kinderbeauftragten der Landesregierung NRW.
Durchführung: ProKids-Büro, Herten.
Münster, November 1999, S.17f.
empirische Basis 2.023 Kinder der vierten bis siebten Klasse zwischen 9 und 14 Jahren, die im Zeitraum Februar bis Mai 1999 befragt wurden. Die Stichprobe umfaßt 49,6% Jungen und 50,4% Mädchen, der Ausländeranteil in der Stichprobe beträgt 18,6%.
Zitat "Die Zahl der Hochzeiten stieg 1999 um 3,2 Prozent auf 431.000, wie das Statistische Bundesamt am Donnerstag in Wiesbaden mitteilte.
Bei den Eheschließungen habe es im früheren Bundesgebiet und in den neuen Ländern die gleichen positiven Tendenzen gegeben: Im Westen wurden 370.000 Hochzeiten gefeiert, das ist ein Plus von 2,1 Prozent. Im Osten wurden gar 10,3 Prozent oder 61.000 mehr Ehen als im Vorjahr geschlossen."
(Auch Journalisten haben Probleme mit der Statistik: Es wurden im Osten natürlich nicht 61.000 Ehen mehr als im Vorjahr geschlossen. Es wurden 61.000 Ehen geschlossen, das waren 10,3 Prozent mehr als im Vorjahr.
Ob diese Zunahme - wie ddp vermutet - auf das besondere Heiratsdatum »9.9.1999« zurückgeführt werden kann, müßte erst mit genauen Zahlen belegt werden.)
Quelle Wiesbaden (ddp) Pressemeldung vom 6.Juli 2000.
empirische Basis Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland.
Zitat "In den vergangenen Monaten hat die Bonner Lehrerin Dorothee Hölscher Viertklässler ... ihre Hoffnungen und Ängste aufschreiben lassen.
Schon seit 1986 trägt Hölscher immer wieder Gedanken von Schülern zusammen. Vor zehn Jahren beschäftigte die Schüler vor allem die gerade zusammengebrochene DDR. ... Heute lesen sich die Träume oft eigennütziger. So hätte Valena aus Merseburg gern 'einen dunkelblauen Audi A4'. Ihr größter Wunsch, und da ist sie sich mit den meisten ihrer Altersgenossen einig, ist allerdings eine Familie mit Kindern."
Quelle Ulm (dpa), zitiert nach: Westfälische Nachrichten vom 20.9.2000.
empirische Basis Aufsätze von Viertklässler aus 15 Städten in Deutschland und aus deutschen Schulen in aller Welt.
(200 dieser kurzen Aufsätze sind erschienen in: "Miteinander. Gedanken, Träume, Wünsche Zehnjähriger aus Ost- und Westdeutschland 1990-2000.")
Zitat "In einer gestern veröffentlichten Forsa-Umfrage vertraten 73 Prozent der Befragten die Ansicht, die Ehe sei nach wie vor ein Lebensbund. Vor allem Männer (77 Prozent) und Verheiratete (84 Prozent) waren dieser Meinung. 81 Prozent erklärten zudem, sie würden noch einmal heiraten."
Quelle Hamburg (AP), zitiert nach: Westfälische Nachrichten vom 4.1.2001.
empirische Basis Offensichtlich die bei Forsa übliche Stichprobe.
Zitat "Nach der gestern vorgestellten 'Familien-Analyse 2002' ist für 91 Prozent der Mütter und 82 Prozent der Väter Familie das Wichtigste im Leben. Dabei ist die traditionelle Familienform - ein Ehepaar mit einem oder mehreren Kindern - dominierendes Modell: 84 Prozent der Eltern sind verheiratet. 'Familie ist kein Auslaufmodell', betonte Allensbach-Geschäftsführerin Köcher."
Quelle Berlin (AP), zitiert nach: Westfälische Nachrichten vom 30.1.2002.
empirische Basis Repräsentative Studie über die Situation junger Familien, die das Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Zeitschrift 'Eltern' durchgeführt hat.
Zitat Die "klassische" Familie steht klar auf Platz eins
"Familie ist die beliebteste Lebensform in Deutschland", hat Familienministerin Renate Schmidt gestern bei der Veröffentlichung des "Familiensurveys 2000" festgestellt. Trotz aller Tendenzen zu anderen Lebensformen sei die "klassische" Familie - Eltern, zwei Kinder - das vorherrschende Modell, so Schmidt. Und die Erhebung ergab auch, dass die große Mehrheit der Kinder bei seinen leiblichen Eltern aufwächst: mehr als 80 Prozent im Westen, über 70 Prozent in den neuen Ländern.
Quelle Westfälische Nachrichten vom 25.7.2003 (eigener Bericht)
empirische Basis Familiensurvey 2000 mit etwa 8000 Interviews - so im zitierten Bericht
 
Nachdem ich dieser "Sammlung" mehr als zwei Jahre nichts mehr hinzugefügt habe - nicht, weil es keine entsprechenden Hinweise mehr gegeben hätte, sondern weil es langweilig wurde - schließe ich das Ganze mit einem Zitat aus einem ZEIT-Artikel ab.
"1950 lebten im Westen gut drei Millionen Menschen allein. Heute sind es 12 Millionen, in ganz Deutschland bald fünfzehn Millionen. In Großstädten sind die Hälfte aller Haushalte Einpersonenhaushalte. Das klingt enorm. Doch es gibt Einwände. Natürlich.
Nummer eins:
Ein Drittel bis die Hälfte aller Alleinwohnenden sind nicht alleinstehend. Sie haben eine Partnerschaft, leben aber in getrennten Wohnungen. Und die 'Intimität auf Distanz' ist meist auch nur vorübergehend. Wenn die Beziehung hält, zieht man zusammen. Der Wohlstand erlaubt die schrittweise Annäherung, auch die Korrektur.
Der zweite Einwand:
Familien gründen zunehmend mehrere Haushalte in einem Haus. Wieder ein Wohlstandsphänomen. Man lebt unter einem Dach, aber es sind Wohnungstüren zwischen Eltern, großen Kindern und Großeltern. Andere leben Haus an Haus oder gleich um die Ecke. Auch eine 'Intimität auf Distanz', die sich ausbreitet und in den neunziger Jahren zu dem Irrtum geführt hat, der Generationenzusammenhang löse sich auf. Denn viele Forscher schauen nur auf die Haushalte. ...
Dritter Einwand:
Knapp 40 Prozent der Alleinwohnenden sind Menschen über 65. Die "Single-Gesellschaft" beruht zu einem Großteil auf der höheren Lebenserwartung."
( Hillenkamp, Sven: Einsamer nie? In: DIE ZEIT, Nr.51 vom 15.Dezember 2005, S.51f.)
 
 
 
Eins, zwei drei im Sauseschritt eilt die Zeit - wir eilen mit (Wilhelm Busch)
 
2014 veröffentlicht das Statische Bundesamt unter der Überschrift "Familien 2013: Ehepaare noch dominierend, aber rückläufig" die nachfolgende Meldung, die deutliche Unterschiede zwischen dem Vorkommen des klassischen Familientyps auf dem Gebiet der ehemaligen DDR (einschl.Gesamtberlin) gegenüber dem alten Bundesgebiet zeigt.
Zitat "WIESBADEN - Im Jahr 2013 waren in Deutschland 70 % der insgesamt knapp 8,1 Millionen Familien mit mindestens einem minderjährigen Kind Ehepaare. Der Anteil der alleinerziehenden Mütter und Väter an allen Familien betrug 20 %. Die restlichen 10 % entfielen auf nichteheliche oder gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, zeigt sich ein Wandel der Familienformen: Im Jahr 1996 lag der Anteil der Ehepaare mit 81 % noch deutlich höher. Dagegen gab es damals wesentlich weniger Familien mit Alleinerziehenden (14 %) oder Lebensgemeinschaften (5 %).
 
Im Ländervergleich gibt es bei der Verteilung der Familienformen im Jahr 2013 erhebliche Unterschiede: In Baden-Württemberg war der Anteil der Ehepaare an allen Familien mit minderjährigen Kindern mit 78 % am höchsten; in Berlin, Sachsen-Anhalt und Sachsen lag der Anteil der Ehepaare am niedrigsten (jeweils 51 %). Lebensgemeinschaften traten am häufigsten in Sachsen-Anhalt und Sachsen auf (jeweils 23 % aller Familien), in Rheinland-Pfalz dagegen am seltensten (6 % aller Familien). Die meisten Ein-Eltern-Familien lebten in Berlin: Dort waren knapp ein Drittel (32 %) der Familien Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern. In Baden-Württemberg traf dies nur auf rund jede sechste Familie (16 %) zu.
Quelle Statistisches Bundesamt: Pressemitteilung Nr. 367 vom 20.10.2014
empirische Basis Basis dieser Ergebnisse ist der Mikrozensus, die größte jährliche Haushaltsbefragung in Deutschland und Europa. Als Familien gelten in der vorliegenden Analyse alle Eltern-Kind-Gemeinschaften, bei denen mindestens ein minderjähriges Kind im Haushalt lebt. Zu den Kindern zählen dabei - neben leiblichen Kindern - auch Stief-, Pflege- und Adoptivkinder.
 
Von einem grundlegenden Wandel wird man zumindest bei den vorliegenden Zahlen für die "alten" Bundesländer nicht sprechen können. Ich schreibe dies (durchaus als Spekulation zu verstehen) am Ende des Jahres 2016, in dem man allerorten ein Erstarken konservativer Vorstellungen beobachten kann. Diese Vorstellungen reiben sich an dem im Herbst 2015 begonnenen zunächst ungeregelten inzwischen aber eingeschränkten und orgsnisatorisch bewältigten Zustrom von Flüchtlingen. Deren Integration wird nicht nur die Statistik im Bereich der Wirtschaft beeinflussen, sondern sich auch - ebenso wie die zunehmende konservative Einstellung der Ursprungsbevölkerung - auf die Verteilung der Familienmodelle auswirken.
Warten wir also noch mal ein paar Jahre, ob sich und wie sich die von Politikern, Soziologen, Demographen u.a. erwartete "Angleichung der Lebensumstände" zwischen Ost und West und die "Integration der Flüchtlinge" in der Frage des bevorzugten Familienmodells entwickeln wird.
Möglicherweise muß man dann besser von "Modellen des Zusammenlebens von Erwachsenen mit Kindern" sprechen.
 
 
zurück/weiter nach: Ausstellung/Streifzüge/Familienmodelle/Interpretationen
zurück/weiter nach: Ausstellung/Streifzüge/Familienmodelle/Texte