Peter Kraft
Münster, Weihnachten 1998
 
 
Sehr verehrte Maria S.
Natürlich freue ich mich, wenn ich erfahre, daß Sie in Moskau in mein Museum schauen und natürlich beantworte ich Ihnen gern all Ihre Fragen - zumal Ihr excellentes Deutsch es mir ermöglicht, in meiner Sprache zu antworten.
Da Ihre Fragen bezüglich des Museums von allgemeinem Interesse sind, erlaube ich mir, meine Antwort zu veröffentlichen. Sie fällt aus diesem Grunde auch etwas umfangreicher aus: Es ist sozusagen ein Zwischenbericht nach fast fünfjährigem Bestehen des Musée Imaginaire.

Vorab einige Informationen, die Ihnen bei der Größe des Museums (heutiger Stand: mehr als 4.000 HTML-Texte) vielleicht noch nicht begegnet sind:

  • Das Musée Imaginaire wird nach wie vor von mir allein "betrieben". Von der Recherche über das Einscannen der Bilder bis zur Programmierung mache ich alles selbst, ganz selten kann ich einer Hilfskraft oder einer Sekretärin einen Text zum Abtippen geben.
  • Ich arbeite am Museum neben meiner Haupttätigkeit als Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Lehrerausbildung und den sich daraus ergebenden Verpflichtungen. Die Erfahrungen mit dem Museum nutze ich allerdings bei der Präsentation meiner Vorlesungen im Internet.
  • Meine Bild- und Textrecherchen betreibe ich seit 1992. Zur Zeit umfaßt mein Archiv knapp 1.000 Bilder von etwa 290 Malern und Malerinnen - im Museum vertreten sind aber bis heute nur 306 Werke von 73 Malern und Malerinnen.
  • Wie man diese Tätigkeiten bezeichnen kann (Recherchen, Studien, Forschung o.ä.), ist mir nicht so wichtig. Die Ergebnisse gehen z.B. in meine Veranstaltungen ein, wenn ich über "Veränderte Kindheit" lese und stehen als didaktische Anregungen inzwischen in der KINDERECKE des Musée Imaginaire zu Verfügung.
 
Nun zu Ihren Fragen:

Warum benutzen Sie keine modernen Werke?

Ohne darüber streiten zu wollen, wo denn die Moderne ansetzt (bei Picasso? - oder muß ein Künstler noch leben, um modern zu sein?), erlaube ich mir folgende Hinweise:
  • Peter Nagel und Winfried Tonner leben meines Wissens noch.
  • Ich halte neben Picasso (gest.1973) auch Dix (gest. 1968), Duwe (gest. 1984), Felixmüller (gest. 1977) und Hubbuch (gest. 1979) für moderne Künstler - alle sind bereits im Musée Imaginaire vertreten (Nachtrag: Das trifft aus Gründen, die im Museumsboten Nr.5 erklärte werden, inzwischen für einige Künstler nicht mehr zu.)
  • Albers, Pollock, Nay, Beuys, Lichtenstein und viele andere "Moderne" haben zu meinem Thema nichts beigetragen bzw. ich habe bei ihnen bisher noch keine Beiträge entdeckt.

Hier ist kein einziges russisches Gemälde dargestellt

Richtig, es ist auch kein ungarisches, kein griechisches und kein türkisches Gemälde abgebildet, keines aus Asien, aus Australien, aus Afrika, aus (Nord-)Amerika nur zwei oder drei.
Ich habe mich im Wesentlichen auf den west-mittel-europäischen Kulturkreis beschränkt. Das hat mehrere Gründe:
  • Mein Ausgangspunkt war die in der Lehrerausbildung diskutierte Frage nach der "Veränderten Kindheit". Da ich deutsche Lehrer und Lehrerinnen ausbilde, interessieren mich (ohne jegliche nationale Überbetonung) zunächst einmal Veränderungen in meinem Kulturkreis.
  • Meine Recherchen habe ich mit dem Besuch deutscher Museen und Galerien begonnen. Bilder, denen ich dort (und später dann in der Literatur) begegnet bin, sind von den Malern und Malerinnen geschaffen worden, die ich im Gesamtverzeichnis schon einmal aufgelistet habe. (Maria Bashkirzewa ist darin bis jetzt die einzige Russin, sie hat allerdings in Paris gelebt.)
  • Ich bin auch bei meinen Literaturrecherchen kaum auf russische Bilder gestoßen. (Allerdings habe ich von den über 100.000 Bänden, die allein in der Bücherei des Landesmuseums in Münster stehen, noch nicht einmal 1% gesichtet.)
  • Es hilft im übrigen gar nichts, von einem Bild zu wissen, ich brauche eine farbige Vorlage und entsprechende Texte. Ich brauche Texte über das Bild und über den Künstler (die ich z.T. aus dem Englischen, Französischen, Holländischen und Schwedischen übersetzt habe/übersetzen lassen mußte). Das ist ja das didaktische Prinzip dieses Museums. Bilder einzuscannen und aneinanderzureihen: das ist mir zu wenig - auch wenn das im Internet weit verbreitet ist.
    Von Repin gibt es ein Bildnis seiner Tochter Vera (Tretjakow-Galerie, Moskau), von Polenow kenne ich den Moskauer Hof (auch Tretjakow-Galerie), bei Lewitan, Grabar finde ich nichts, gefallen tun mir die Kinder Sacha und Jura Serows (Staatl. Russ. Museum, in St.Petersburg), aber ich weiß weder etwas über die Maler noch finde ich Texte über diese Bilder - ganz davon zu schweigen, daß Kindheiten im zaristischen Rußland ganz andere als etwa in Frankreich - zumal in Paris - gewesen sein dürften (vgl. Baskirzewas Eine Begegnung).

Es wird wohl nicht zu verhindern sein, daß das Museum, sowohl was die Frage nach der Modernität der Werke als auch die nach der Nationalität der Künstler betrifft, beschränkt bleiben wird - auch in der Zukunft.

Es gibt in der Literatur mehrere Beispiele, deren Verfasser so ähnlich wie ich im Museum vorgehen - auch bei ihnen ist Begrenzung ein didaktisches Prinzip (und weil es sich um Bücher handelt auch ein notwendiges). Da ich diese Bücher lesenswert finde, schreibe ich Sie Ihnen hier auf (vielleicht begegnen sie Ihnen ja mal in einer Bibliothek):
  • Dagmar von Gersdorff: Kinderbildnisse aus vier Jahrtausenden.
    Berlin 2.Auflage 1989. 170S. (nicht mehr lieferbar)
    Der Untertitel spricht die Begrenzung aus: "Aus den Sammlungen Berliner Museen." Das Künstlerverzeichnis unterscheidet sich nur an wenigen Stellen von dem meinigen.
     
  • Dominique Spiess: Kinder.
    Französische Original-Ausgabe: Lausanne 1990.
    Deutsche Ausgabe: München 1992, 141S. (vergriffen)
    Auch hier enthält der Untertitel die Begrenzung: "Bilder berühmter Maler." Wenn ich es richtig sehe, ist Alexandre Deineka der einzige darin aufgenomme sowjetische Künstler (er starb 1969).
     
  • Susan Bracaglia Tobey: Art of Motherhood.
    Amerikanische Ausgabe: New York 1991.
    Deutsche Ausgabe: München 1992, 171S. (vergriffen)
    Hier ist "Mutterschaft" der zentrale Begriff, unter dessen verschiedenen Aspekten Bilder aus durchaus unterschiedlichen Kulturkreisen nebeneinandergestellt und kurz erläutert werden. Das Auswahlprinzip ist mir allerdings nicht klar - der (ehemals) kommunistische Einflußbereich fehlt fast völlig (Chagall ist ebenso wie das alte China vertreten).
     
  • Horst Schiffler/Rolf Winkeler: Tausend Jahre Schule.
    Stuttgart/Zürich, 4.Auflage 1994, 160S. (lieferbar)
    Hier ist die Eingrenzung klar, erst im Untertitel wird der Bezug zur Bildenden Kunst deutlich: "Eine Kulturgeschichte des Lernens in Bildern."
    Die Traditionslinie der (west-)römischen Kirche, der Ausbreitung des Christentums führt auch hier (wie im Museum) zu einer Eingrenzung der bildungs- , kultur- und sozialgeschichtlichen Behandlung des Themas auf den west-mitteleuropäischen Bereich. Man erfährt dementsprechend viel über die Schule in den Niederlanden des 17.Jahrhunderts (ein Abschnitt, den ich ins Museum übernommen habe), aber weder Jasnaja Poljana noch die Gorki-Kolonie finden dort irgendeine Erwähnung.

     
    Exkurs für Interessierte:
    Ersteres war die 1849 von Tolstoi gegründete Dorfschule. Die Gorki-Kolonie hat Makarenkow 1920 ins Leben gerufen.
    "Das einzige Kriterium der Pädagogik ist die Freiheit, die einzige Methode die Erfahrung, das Experiment" - dies Tolstois oberste Erziehungsmaxime. Augenzeugen hielten es für berichtenswert, daß es in dieser Schule keine Prügelstrafe gab.
    Ich empfehle von Tolstoi "Roman eines russischen Gutsbesitzers" und in Thomas Manns Essay "Goethe und Tolstoi" den Abschnitt 'Unterricht'.
    Über Makarenkow erfahren (west)deutsche Lehramtsstudenten im besten Falle, daß er zu den historischen Vorbildern der Projektmethode zu zählen sei (so bei Frey, Karl: Die Projektmethode. Weinheim/Basel 1984, S.39). Sicher war er ein Vertreter der russischen Arbeitsschulbewegung und ein äußerst engagierter Sozialpädagoge. In der Kolonie versuchte er, obdachlosen, verwahrlosten z.T. gewalttätigen und meist hungernden Jugendlichen erst einmal ein Dach über den Kopf zu geben. Diesen Jugendlichen mußte zunächst (vor aller die Projektmethode kennzeichnenden Selbstbestimmung) der Nutzen von angeordneter Arbeit (Holzfällen, Acker bestellen etc.) zum Wohle aller in einem streng geordneten Tagesablauf vermittelt werden. Wie Frey empfehle ich die (spannende) Lektüre von "Ein Pädagogisches Poem".

Haben Sie versucht, den Kindern die Beschreibung der Bilder zu geben?

Ja und nein, muß ich darauf antworten.
Nein, weil ich diese Beschreibungen (die ja bis auf ganz wenige Ausnahmen aus Büchern entnommen sind, die für Erwachsene geschrieben worden sind) bisher niemals im Schul-Unterricht oder in einer museumspädagogischen Einrichtung Kindern zugänglich gemacht habe. Ich habe dies auch nicht mit meinen Studenten und Studentinnen versucht oder ihnen vorgeschlagen (da sie von mir keine fachlich orientierte, sondern eine allgemeine, schulpädagogische Ausbildung erwarten). In der Fachausbildung zum Kunstlehrer sind an den Universitäten in Deutschland ein paar Kollegen tätig, die dieses viel qualifizierter könnten und auch tun. Berichte dazu finden sich genügend in den Fachzeitschriften, z.B. in Kunst+Unterricht.
Ja, weil ich in der erwähnten KINDERECKE ein entsprechendes Angebot mache. Bis heute habe ich allerdings noch keine Rückmeldungen erhalten - es haben ja auch noch viel zu wenig (Grund-)Schulen die Möglichkeit, Angebote im Internet zu empfangen bzw. fehlt es an Lehrkräften, die außerhalb des Informatikunterrichts die Möglichkeiten des Internets nutzen. Sollten Arbeiten, wie ich sie dort angeregt habe, eingehen, werden sie selbstverständlich auch dort veröffentlicht.
 

Es ist ganz interessant, wie Sie selbst den Begriff "Kindheit" verstehen.

Oh, wie denn? Meines Wissens habe ich "Kindheit" bisher im Rahmen des Musée Imaginaire nirgendwo definiert.
In den "Gedanken zum Konzept einer Ausstellung zu Kindheitsdarstellungen in der bildenden Kunst" (aus dem Frühjahr 1994) gibt es einen Abschnitt "Kindheit", dort heißt es:
  • "Kindheit als eigener Lebensabschnitt scheint mir (inzwischen und nach längerer Überlegung) keine gesicherte Errungenschaft der Neuzeit zu sein."
    Ich beende dort den entsprechenden Gedankengang mit dem Hinweis, daß (meiner Meinung nach) "Kindheit sich zwar als Begriff durchgesetzt hat, die damit gemeinten Inhalte aber nicht Realität geworden sind".
Nach mehr als fünf Jahren Beschäftigung mit Kunstwerken zum Thema Kindheit will ich denn zur Jahreswende 1998/99 ein paar weitere Gedanken zu meinem Verständnis von Kindheit zu Papier bringen bzw. der digitalen Datenwelt anvertrauen:
 
I.
Ich sehe mich nach wie vor nicht in der Lage Kindheit zu definieren.
Es gibt sie nämlich nicht im Singular, es gibt viele historisch verschiedene, räumlich abgegrenzte und sozialschicht-abhängige Kindheiten.
Benennen kann ich diese Kindheiten allerdings nur, wenn ich einem allgemeinen Konsens folgend unterstelle, daß es vor dem Eintritt in das Erwachsenen-Alter (wann immer das zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen war bzw. ist) eine gesonderte Entwicklungsphase gibt, die von der Gesellschaft als eine solche akzeptiert wird. Schon an dieser Stelle ergeben sich eine Fülle von Problemen. Ich nenne nur einige:
  • In entwickelten Gesellschaften ist durch die immer früher einsetzende Geschlechtsreife auf der einen Seite und den durch Ausbildungsnotwendigkeiten (Verlängerung der Schulzeitpflicht) immer späterer Eintritt in das Berufsleben auf der anderen Seite eine Lücke zwischen "Kindheit" und "Erwachsenem-Dasein" entstanden, die durch den "Jugendlichen" ausgefüllt wird - gleichwohl wird man den nicht-erwerbstätigen Studierenden den Erwachsenen-Status kaum vorenthalten wollen.
    Wann hört Kindheit (in diesen Gesellschaften) heutzutage auf?
     
  • Wann fängt für das Individuum Kindheit an?
    Sind Schwangerschaft und Geburt Phänomene der Mutterschaft oder der Kindheit?
    "Stillen" deutet auf Mutterschaft (zu bestimmten Zeiten, in bestimmten Gesellschaftsschichten ist das Stillen aber den Ammen überlassen worden.) - "Säugling" verweist auf das Kind.
    Muß vor der Kindheit die Säuglingsphase als eigenständige Phase (entsprechend der des Jugendlichen) gedacht werden?
    Beginnt Kindheit mit dem Abstillen, den "Ersten Schritten", den "Ersten Worten"?
     
  • Kann ich mit einem aus der heutigen Sichtweise einer nachindustriellen Dienstleistungsgesellschaft mit hohem Ausbildungsniveau gewonnenen Kindheitsbegriff "Kindheit(en)" zu Beginn des 19.Jahrhunderts überhaupt angemessen erfassen?
     
  • Wenn "Arbeit" (als Sicherung der materiellen Basis) dem Erwachsenen zugeschrieben wird, ist dann "Kinderarbeit" ein Phänomen von Kindheit? - oder: wie kann man diese Frage überhaupt angemessen formulieren?
Diese vier Problembereiche zeigen schon:
Ich bin nicht in der Lage, diese Fragen ohne Einschränkungen, Klammern, Ergänzungen und Hinweise zu formulieren (geschweige denn zufriedenstellend zu beantworten).
Es mag Sozialwissenschaftler geben, die diese Skrupel nicht haben. Ich kann mit dem Begriff Kindheit nicht viel anfangen.
Gleichwohl benutze ich ihn ständig, weil er einen zunächst allgemein verständlichen (vorwissenschaftlichen) Bedeutungsumfang hat - so wie er eben auch in den meisten Lexika (allerdings gar nicht unter "Kindheit") zu finden ist:
Kind, der Mensch in der Alters- und Entwicklungsphase der Kindheit. Im allg. unterscheidet man zw. Neugeborenem (bis 10.Lebenstag), Säugling (1.Lebensjahr), Kleinkind (2. und 3.Lebensjahr), Kindergartenkind (4.-6.Lebensjahr) und Schulkind (7.-14.Lebensjahr).
(Meyers Großes Taschenlexikon. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich, 4.Aufl.1992, Bd.11, S.281)
Dieser Bedeutungsumfang wird spätestens dann fragwürdig, wenn man sich klar macht, seit wann denn Kindergarten und Schulzeit verbindlichen Regelungen unterliegen - zumal auch 1992 die Pflichtschulzeit in Deutschland schon länger andauerte und anderswo, z.B. in den Niederlanden, früher anfing.

Also: "Kindheit" will und kann ich nicht definieren.

II.
Ich finde im übrigen eine ganz andere Frage viel spannender und anregender, nämlich die nach der Auswahl der Bilder.
  • Welche Bilder nehme ich in das Musée Imaginaire auf?
     
    Da muß man zunächst einmal bedenken, daß ich erst knapp ein Drittel der in meiner (analogen) Dokumentation z.Zt. erfaßten Bilder auch tatsächlich digitalisiert habe und im Musée Imaginaire zeigen kann. Die damit verbundene Auswahl erfolgt nach eher pragmatischen Gründen als aufgrund von inhaltlichen oder systematischen Aspekten:
     
    • Wenn ich (endlich) ein Buch mit einem Gemälde, das ich zur Realisierung einer thematischen Führung benötige, in der Hand habe, dann scanne ich auch gleich die darin enthaltenen Bilder ein, die "eigentlich" noch nicht bearbeitet werden können, deren Zusammenhang mit der Museumsthematik noch nicht ersichtlich ist.
       
    • Ich habe noch nicht einmal alle Bilder zusammen, die ich für die Umsetzung des ursprünglichen (realen) Ausstellungsprojektes "Spielräume" benötige - immer kommen mir wieder andere Bilder dazwischen (auch völlig neue), die in meinem Kopf - also als Idee - Kindheitsaspekte sichtbar werden lassen.
       
    • Vergleiche, Entwicklungslinien kann ich erst deutlich werden lassen, wenn genügend Beispiele vorhanden sind - ich sammele also auch "auf Vorrat".
       
    • Manchmal ist auch ein "neues" Bild der Anlaß, einem bisher noch nicht beachteten Aspekt nachzugehen, Bilder neu zu ordnen, wieder "Lücken" festzustellen, weiter zu suchen, manchmal sogar nach Bildern, die ich schon einmal gefunden, aber aussortiert habe - aber das "neue" Bild steht solange noch unbearbeitet im Magazin rum.
       
    • Ganz "schlimm" sind Werkverzeichnisse oder Kataloge großer Werkschauen, weil sie dazu verleiten, den Künstler in den Vordergrund zu stellen und nicht die Kindheitsthematik - bei Liebermann habe ich mich irgendwann gefragt, ob ich nicht mal aufhören sollte.
       
    • Ich erlaube mir des öfteren (wenn auch etwas versteckt), Fragen nachzugehen, die "nur" das Werkschaffen eines Künstlers betreffen. So habe ich viel Zeit damit verbracht, verschiedene Versionen von Munchs Krankem Mädchen aufzufinden - noch habe ich nicht alle zusammen.
       
    • Das zu Beginn meiner (Such-)Bemühungen aufgestellte Arbeitsprinzip, nur Ölgemälde und nur farbige Wiedergaben zu verwenden, habe ich aufgegeben:
      • Von manchen Bilder liegen keine farbigen Reproduktionen vor (vgl. z.B. die Werke von Hasenclever),
      • Wichtige thematische Ergänzungen finden sich bei einigen Künstlern im grafischen Oevre (so z.B. bei Ostade),
      • Den grafischen Bereich habe ich auch dann mit einbezogen, wenn sich dort besonders aussagekräftige Beispiele fanden, die nur (noch) in dieser Technik vorliegen (etwa Hasenclevers Kegeljunge).

Die Auswahl der Bilder entsteht zum einen in nicht unwesentlichem Ausmaß beim digitalen Aufbau des ursprünglichen, realen Ausstellungsprojektes "Spielräume" und zum anderen durch die thematischen Anregungen aus den bereits vorhandenen Bilder:
Aspekte von Kindheiten realisieren sich durch Suchbewegungen im Kosmos vorhandener bildnerischer Darstellungen - Besucher des Musée Imaginaire können diese Suchbewegungen mit einer erheblich höheren Trefferquote nachvollziehen bzw. für sich re-konstruieren, als dies bei meinen Recherchen der Fall ist.

III.
Zwei Beispiele für das bisher Gesagte:
  1. Erst bei den obigen Ausführungen zu Kindheit ist mir die "Verwandschaft" zweier sehr ungleicher Bilder aufgegangen:
     

    Werden nicht beide Kinder, der knapp zweijährige Infant Philipp Prosper und der vielleicht 12jährige Kegeljunge, zwar aus unterschiedlichen Gründen aber gleichermaßen um ihre Kindheit betrogen?
    Ich gebe Ihnen weder hier noch im Museum eine schlüssige Antwort auf diese Frage - Sie müssen sie selber suchen, und bei diesen beiden Bildern sind genügend Stücke für eine (Ihre!) Antwort vorhanden: Lesen Sie wenigstens die Bildinterpretation zum Kegeljungen und den Text von José López-Rey über Philipp Prosper.

  2. Der Zahnzieher, 1651 von Jan Steen gemalt, ist eines der Bilder, das zunächst beziehungslos im Museum hängt - gleiches trifft auf die schon seit mehr als drei Jahren vorhandene Radierung Der Quacksalber von Adriaen von Ostade aus dem Jahr 1648 zu.
    In beiden Bildern steht ein Junge im Vordergrund, mit dem Rücken zum Betrachter gewandt, der rechter Hand einen Reifen und linker Hand den Treibstock bei sich hat.
    Mich interessiert unter dem Thema Spielzeug der geschlechtsspezifische Aspekt. Puppen habe ich (bisher) nur bei Mädchen gefunden - die entsprechende Motivsammlung belegt das. Bei den Reifen deutet sich eine andere Entwicklung an: Zunächst findet er sich bei den Jungen, möglicherweise bedingt durch die technische Herkunft als Faßreifen (auch das zeigen die Bilder von Steen und Ostade). Dann scheinen sich seiner die Mädchen bemächtigt zu haben. Noch ist aber die "Ausbeute" zu gering, um eine solche Aussage machen zu können.
    (In Kinderphotos des ausgehenden 19.Jahrhunderts findet man die Puppe den Mädchen, die Peitsche den Jungen, den Reifen aber beiden Geschlechtern zugeordnet - vgl. auch: Elke Dröscher; Kinder-Photo-Album. Dortmund 1980.)
IV.
Das führt mich zu der abschließenden Frage:
Zeigen uns die vorliegenden Werke der Bildenden Kunst "wirkliche" Kindheiten, können wir anhand der Bilder (verläßliche) sozialgeschichtliche Aussagen über frühere Kindheiten tätigen?
Da ich mich nicht klüger als die "Fachleute" geben möchte, der Haken dieser Frage zudem in "verläßliche" stecken dürfte, belasse ich es mit folgendem Hinweis (nach weiteren fünf Jahren kann ich vielleicht den Versuch einer Beantwortung dieser Frage aus meiner Sicht wagen):

Auf einem Symposion vor wenigen Wochen in Münster anläßlich der Europaratsausstellung "1648 - Krieg und Frieden in Europa" ist die Frage nach der "Realität in Kunstwerken" bezogen auf die Kriegsdarstellungen von ausgewiesenen Fachleuten sehr kontrovers diskutiert worden: Während einige den Schlachtengemälden einen sehr hohen Grad von Realität zusprachen, sahen andere darin mehr das Repräsentationsbedürfnis der jeweiligen Auftraggeber verwirklicht.
Die "Wahrheit" wird - wie so oft - in der Mitte liegen.